Byzanz
anwinkelte, gegen den Unterleib des Mannes, der aufschrie. Fast gleichzeitig griff sie nach dem Messer und stach es ihm in den gekrümmten Rücken. Vor Schmerz heulte der Mann und richtete sich auf. Anna trat, das Messer in der Linken, zurück und schlug blitzschnell einen Bogen um ihn. Dann rannte sie los, so schnell ihre Beine sie trugen. Sie spürte, dass er ihr zu folgen versuchte. »Ich krieg dich, ich krieg ich«, brüllte er, aber die Stimme des Zuhälters wurde immer leiser. Sie ließ das Messer fallen. Als sie wieder auf die Straße bog, streifte sie seine letzten Laute ab wie einen unguten Tagtraum. Obwohl sie sich sicher fühlte, Stephanos los zu sein, stürmte sie dennoch durch die Straße und kam schließlich außer Atem im Kloster an. Der Pförtner wunderte sich darüber, dass sie ohne Begleitung kam. Wahrscheinlich ärgerte er sich darüber, auf den Plausch mit den Wächtern des Mädchens verzichten zu müssen. Als sie die Zelle des Lateiners betrat, machte der vor Staunen große Augen.
»Dein Vater war hier, es ist vielleicht …«
»Ich weiß, dass er da war. Wir haben nicht viel Zeit. Komm, ich habe eine Idee.« Sie schnappte seine Hand und zog ihn einfach mit sich. Vor der Tür zum Lesesaal ließ sie ihn los. Bevor sie eintraten, atmeten beide tief durch, um zur Ruhe zu kommen. Während Nikolaus mit dem Bibliothekar ein paar Floskeln austauschte, prägte sich Anna die Ikone ein. Dann standen sie wieder in dem Saal mit den Schriften.
»Stell dir den Grundriss des Raums aufgerichtet vor, als ob er vor uns stünde. An was erinnert er dich dann?« Nikolaus brauchte einige Zeit, denn ihre Aufgabe verlangte Phantasie und Abstraktionsvermögen.
»Hatten wir nicht das Gefühl eines Ameisenbaus?«
»Ja, horizontal gesehen schon, aber von oben geschaut eher eine Grotte.« Wie die Augen eines Lehrers, der sich über die richtige Antwort seines Schülers freute, leuchteten ihre Augen. »Gut, sehr gut. Was ist das Wichtigste an der Geburt Christi?«
»Christus. Dort, wo Christus ist, wären die wichtigsten Bücher.«
»Zu leicht. Du suchst doch Bücher von Platon.«
»Platon, Proklos, Plotin, ja.«
»Platon, Proklos, Plotin, hast du gesagt?« Nikolaus nickte. Fältchen zeigten sich auf ihrer Stirn, ihr Gesicht strahlte Konzentration aus. »Die Ikone zeigt eine Grotte. In ihr kniet die Muttergottes, die Christus, wie ein Kind gewickelt, in die Wiege legt. Links kreuzt Joseph die Hände vor seiner Brust. Hier finden wir wahrscheinlich die Bücher der Kirchenväter. Vor der Krippe stehen Ochs und Pferd, da werden wir die Naturphilosophie entdecken. Dann kommen die heiligen Hirten, also die christlichen Philosophen, und jetzt kommt es. Ahnst du es?« Nikolaus wusste beim besten Willen nicht, worauf sie hinauswollte, konnte es allerdings auch nicht, weil er die Ikone, die vor dem Eingang hing, nicht im Kopf hatte.
»Auf der anderen Seite befinden sich die Magier, die im goldenen Gewand auf Pferden sitzen.«
Der Lateiner pfiff durch die Zähne. Was das Mädchen sagte, klang einleuchtend. »Die Magier symbolisieren die alte Weisheit und die alten Philosophen.« Sie gingen zu der Stelle im Raum, an der, wäre der Grundriss des Raumes die Ikone, die Magier stehen mussten. Was sie fanden, erfreute sie anfangs, Cicero und Vergil, Aristoteles und Avicenna, aber weder Platon noch Plotin noch Proklos, sodass sich ihre Freude allmählich eintrübte.
»Es war eine schöne Idee, Anna«, sagte Nikolaus. Sie wollten schon zum Ausgang gehen, da blieb sie stehen. »Die umgekehrte Perspektive«, sagte sie schließlich. »Wir haben zu weit hinten gesucht. Komm!« Sie riss ihn mit sich fort. »Die Figuren, die hinten sind, können größer sein, weil bei der umgekehrten Perspektive die Linien im Unendlichen nicht zusammenlaufen, sondern auseinanderstreben. Also müssen wir weiter vorn suchen.« Vor ihnen stand ein großes Regal, in dem viele Bände lagen, manche auch übereinander. Es erweckte den Eindruck, als habe man hier weniger wichtige Bücher achtlos abgelegt oder aufeinandergestapelt. Zielsicher griff Anna unter einen im mittleren Regalboden liegenden Haufen, zog vorsichtig einen Kodex heraus und las den Titel vor: »Platon: Politeia. ›Vom Staat‹, oder besser ›Vom Gemeinwesen‹, oder noch besser übersetzt: ›Von der Gemeinschaft der Bürger.‹« Nikolaus ließ ein heftiges Hosianna erklingen, das Anna für sich in ein Heureka übersetzte. Dann hüpfte der Gelehrte auf einem Bein herum und schlug mit den
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