Byzanz
schwiegen beide eine Weile. Sie fragten sich, ob der Brief Anna helfen oder bereits vernarbte Wunden wieder aufreißen würde. War es ratsam, ihr den Brief auszuhändigen? Als er mit dem Brief in der Hand in das Zimmer seiner ältesten Tochter trat, fühlte er sich unsicher und unbehaglich. Eirene hatte ihrem Mann zwar nicht widersprochen, aber ihm auch nicht zugestimmt. Seine Skepsis, ob er das Richtige tat, war nicht geringer als die ihre, und seine Intuition hatte nur knapp über seine Zweifel gesiegt.
»Ich habe einen Brief für dich von Nikolaus von Kues.«
Annas Gesicht verzog sich, als habe er sie an etwas Unangenehmes erinnert. Sie zögerte, den Brief anzunehmen.
»Was schreibt er denn?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe den Brief nicht gelesen. Das musst du selbst herausfinden.«
Sie erstarrte. »Du hast den Brief nicht gelesen? Und Mama auch nicht?« Loukas schüttelte den Kopf. Vorsichtig griff Anna nach dem Umschlag und hielt ihn unschlüssig in der Hand.
»Wenn du uns brauchst, wir sind im kleinen Saal«, sagte er und verließ das Zimmer voller Zweifel.
Im Saal saßen sie sich wie auf glühenden Holzkohlen in Korbsesseln gegenüber und sprachen kein Wort. Wozu auch – alles war gesagt, jeder war allein mit seinen Hoffnungen. Eine frühe Fliege brummte durch den Raum. Ihr unablässiges Surren erboste Loukas, denn es klang nach Krankheit und Verfall. Er zog seinen Lederpantoffel aus und erschlug die Fliege.
»Gott sei Dank«, stöhnte Eirene erleichtert.
»Sie werden uns überleben.«
»Wie?«, fragte sie.
»Die Fliegen werden uns überleben. Sie sind die Engel des Teufels.«
»Engel des Teufels? Großer Gott! Du klingst ja schon wie deine Mutter.«
»Hab keine Angst«, bat er.
»Doch«, sagte sie kalt.
Durch die azurblaue Tür trat Anna in den Saal. An ihrem Gesicht ließ sich nichts ablesen. Sie wirkte sehr gefasst.
»Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte sie.
»Bitte«, antwortete Loukas. Das Mädchen schob einen Korbsessel heran und ließ sich kerzengerade nieder. »Ich will euch den Brief vorlesen«, sagte sie und faltete das Papier auseinander.
»Liebe Anna,
Monate und Meilen liegen zwischen uns. Wir hatten nicht einmal die Möglichkeit, uns voneinander zu verabschieden. Wisse, dass mir das leidtut, ja, dass es mich schmerzt.
Aber so viel musste plötzlich so schnell gehen. Wir fahren, wir segeln und rudern im wahrsten Sinne der Vereinigung der Kirche entgegen. Aus dieser Einheit allein erwächst Rettung für Konstantinopel und ein neues christliches Zeitalter. Und die Union kann gelingen, trotz, nein auch wegen der Gegensätze, die in Christus zusammenfallen. Denn die Frage, wie wir die Gegensätze lösen und Gott denken können, habe ich dank Deiner Hilfe zu beantworten vermocht.
Auf der langen Fahrt durch die stürmische Wintersee, durch das geschlossene Meer kamen mir immer wieder Deine Worte in den Sinn. Du sagtest damals, dass die Weisheit aus sich immer wieder erneuernder Vergänglichkeit bis in alle Ewigkeit besteht. Erst habe ich den Satz nicht verstanden, zumindest nicht das Zweite, das er enthielt. Wisse denn, Anna, unsere ganze Philosophie ist von falschen Prämissen ausgegangen, weil wir den Satz des Aristoteles, dass man von zwei gleichen Dingen nichts Gegensätzliches aussagen kann, zum Dogma erhoben haben. Das Größte kann nicht gleichzeitig das Kleinste sein. Aber dieser Satz gilt nur eingeschränkt. Natürlich kann das Kleinste das Größte sein, denn es ist ja dann das größte Kleinste. Halte das nicht für Wortspielerei. Es gibt das Erste, das Eine, das, von dem alles ist, und in ihm fallen alle Gegensätze zusammen. Je einfacher aber das Sein ist, desto stärker und mächtiger ist es. Deshalb ist die uneingeschränkte Einfachheit oder Wahrheit allmächtig. Ich nenne das coincidentia oppositorum , den Zusammenfall der Gegensätze. In sich immer wieder erneuernder Vergänglichkeit fallen die Gegensätze von Ewigkeit und Endlichkeit zusammen, nämlich in der Weisheit. Und das geschieht, weil in dem Einen wie in einem Samen alles, was werden kann, eingefaltet ist und zur Entfaltung kommt. Und so können wir die Welt erkennen, wenn wir die Gegensätze als wirklich betrachten und wir gleichwohl wissen, dass sie in einer höheren Einheit zusammenfallen.
Das gesamte Leben besteht aus diesem Prozess der Einfaltung und Entfaltung. So wie letztlich in Gott alles eingefaltet ist. Das Erste ist das Maß von allem, es ist nämlich in eingefalteter Weise alles, was
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