Byzanz
den »Trost der Philosophie« des Gelehrten Boethius. Der Philosoph hatte dieses Buch verfasst, während er in der Gefangenschaft der Goten auf seine Hinrichtung wartete. Darin stellte er das irdische Glück als vergänglich dar und gelangte zu der Überzeugung, dass nur die Philosophie Trost zu spenden vermochte, weil das einzig Beständige an der Glücksgöttin Fortuna ihre Unbeständigkeit war. Trost benötigte auch sie.
An manchen Tagen ging Eirene – nun nicht mehr verkleidet und nicht mehr allein, sondern in Begleitung ihrer Amme und im Schutz von fünf kaiserlichen Soldaten – zum Bukoleon-Palast und schaute aufs Meer. Das konnte sie stundenlang tun. Das Wasser hatte die Farbe ihrer Sehnsucht angenommen. Zuweilen lief sie zum Sophia- oder zum Kontoskalion-Hafen, wenn ein Schiff, von Chalkedon kommend, einlief, um zu sehen, ob Loukas an Bord war. Sie stand selbst dann noch am Kai, wenn der letzte Matrose das Boot verlassen hatte. Dann schlich sie enttäuscht in die Hagia Sophia, um die Jungfrau Maria zu bitten, ihren Liebsten bald und auch gesund zurückzubringen.
Eines Tages entdeckte sie dort unter den wenigen Besuchern zur Mittagszeit einen jungen Mann. Demetrios, ihr zukünftiger Schwager, stand da, eingehüllt vom Licht der Kuppel und der Kerzen, in die Betrachtung der Ikonen versunken, die an einem Stoffvorhang angebracht waren, der vom Architrav herabhing und den Altar- vom Gemeinderaum trennte. Der schlaksige Junge erinnerte in seiner weißen Tunika und der Weltverlorenheit seiner Gesichtszüge an einen Jünger Jesu. Offensichtlich hatte es ihm eine Deesis angetan, ein Bild, das Christus zwischen Johannes dem Täufer und der Jungfrau Maria zeigte.
»Demetrios«, rief Eirene leise. Ihre Miene drückte nur Freude aus, dennoch erschrak der Junge, als hätte sie ihn bei einer verbotenen Handlung ertappt. Sie konnte es seinem Gesichtsausdruck ansehen, dass er überlegte, ob er dem Impuls zu fliehen nachgeben oder sich dem Unvermeidlichen stellen sollte. Aber schon stand sie vor ihm, und an Weglaufen war jetzt nicht mehr zu denken. Er schlug die Augen nieder, eine heftige Röte färbte seine Wangen.
»Bitte sagt meinem Vater nicht, dass Ihr mich hier gesehen habt!«, flehte er.
Eirene roch die Angst des Jungen, sie duftete wie Kerbel und gebrannte Mandeln und eine Schale Blut.
»Was ist Schlechtes daran, wenn du in die Kirche gehst? Und sag du zu mir, du wirst bald schon mein Schwager sein!«
»Er … er weiß dann, dass ich wieder bei … dass ich wieder bei Dionysios war.«
»Welcher Dionysios?«
»Der heilige Malermönch.« Als er den Namen erwähnte, leuchteten für einen Augenblick seine Augen, bevor sie sich wieder verschatteten. »Wisst …«
»Weißt du!«, fiel sie ihm ins Wort.
Demetrios wischte sich fahrig den Schweiß von der Stirn. »Weißt du, der … der Vater will nicht, dass ich mei… meine Zeit damit verbringe …« Er schluckte und sagte dann überraschend klar und bestimmt, mit dem Timbre des Pathos: »… die Kunst des Ikonenmalens zu erlernen.« Es trat eine kleine Pause ein, bevor er gestand: »Der Vater denkt, ich sei jetzt in der Schule im Studionkloster und ließe mich in Sprachen und im Rechnen unterweisen.«
»Du sollst Kaufmann und kein Maler werden. Richtig?« Der Jüngling nickte. In seiner Angst wirkte der Fünfzehnjährige noch knabenhafter, als er tatsächlich war.
»Ich werde schweigen! Verlass dich auf mich«, versprach sie und nahm sich vor, mit Dionysios zu reden.
»Wirklich?« Der Junge konnte es kaum glauben.
»Wirklich!«
Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über seine schmalen Lippen.
Einige Tage darauf lud Eirene den Mönch Dionysios zu sich in den Palast ein. Die Prinzessin hatte viel von dem Maler gehört, aber ihn noch nie persönlich getroffen.
»Kannst du die Wände meiner Zimmerflucht im Palast der Notaras mit Fresken versehen?«, fragte sie ihn.
»Nein!«
Die Kürze der Antwort, die einem Affront gleichkam, verdeutlichte, dass er nicht vorhatte, sich zu erklären.
»Warum nicht?«
»Ich bin kein Maler. Ich bin Mönch.«
Dionysios geizte mit Worten und mit Mimik. Wie ein Stück Holz, dachte sie, mit Falten wie die Rinde eines Baumes.
»Und die Ikonen?«
»Sind Teil meines Gottesdienstes! Keine Malerei!« Das Letzte sagte er zwar mit so großem Abscheu, als habe man ihn einer Sünde verdächtigt, aber mit ruhiger Stimme. Obwohl er leise sprach, flüsterte er nicht, sondern setzte nur wenig Luft für die Laute ein, als sei nur
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