BZRK Reloaded (German Edition)
das Hirngewebe dicht heran, aber nicht so dicht, dass ein Biot nicht unter dem seltsamen, funkelnden Himmel aus Hirnzellen, die sich sinnlich wanden, hindurchkriechen konnte.
Plötzlich sah sie etwas, das ihr auf früheren Erkundungen noch nicht begegnet war. Ihre erste Assoziation waren Maden.
Es sah wie ein Kadaver aus, wie ein überfahrenes Tier, aber völlig bedeckt von Maden von der Größe kleiner Katzen. Sie wimmelten darauf herum – weiße, gelatineartige Formen ohne Kopf oder Augen oder andere, erkennbare Züge.
Lymphozyten. Die Verteidiger von Vincents Leib und Blut. Weiße Blutkörperchen.
Es war sein Biot. Sein abgestorbener Biot. Die Lymphozyten fraßen ihn auf, verschlangen ihn, trennten langsam die Beine vom Rumpf, verschluckten allmählich seine zertrümmerten und herausgequollenen Innereien.
»Was siehst du?«, fragte Keats, als Sadie erschrocken nach Luft schnappte.
»Seinen Biot«, sagte sie.
»Was?«, fragte Wilkes. Sie hatte nach Vincent gesehen, hatte seine Fesseln strammer angezogen und war wieder zurückgekehrt, weil sie es nicht alleine mit ihm aushielt.
»Sein … es ist sein Biot. Die Sensenmänner machen sich über ihn her.«
So hießen sie im BZRK-Slang: Sensenmänner. Die langsamen, aber tödlichen Lymphozyten – es gab sie in vielen Farben, Formen und Größen – gemahnten daran, dass der Körper sein eigenes Abwehrsystem hatte. Sie machten sauber, räumten mit Millionen von Eindringlingen auf. Geistlos, unerbittlich.
»Was zum Teufel hat sein toter Biot hier zu suchen?«, wollte Plath wissen.
»Ich habe ihn zu ihm gebracht, nachdem wir ihn aus der Präsidentin geborgen hatten. Ich habe es selbst gemacht. Es schien mir richtig zu sein«, sagte Nijinsky. »Man überlässt den Leichnam eines Kindes seinen Eltern.«
Die Lymphozyten hatten eines der Beine gelöst. Seine spitze Klaue ragte nach oben, wurde hin- und hergeschwenkt wie die Friedensflagge eines verzweifelten Besiegten, wurde von den Zellen aufgefressen wie ein Eis am Stiel.
Sie eilte auf ihren ursprünglichen Pfad zurück, wo sie in Sicherheit war. Ihr war übel. Ihr selbst, denn der Biot hatte keinen Bauch.
»Es ist ein Schnitter, heißt der Tod«, kam ihr in den Sinn.
Durch die Augen ihres alten Dreierbiots sah Plath, wie sich der neue, glattere und fähigere Biot näherte. Mit seinem Säuresack, den er wie ein fauliges Ei zwischen seinen Hinterfüßen schleifte, schleppte er sich mühsam daher. Sie erschauerte, als ihre beiden Bioten einander erkannten, als sie die Augen sahen, die den eigenen so ähnlich und doch ganz anders waren.
Das Gesicht eines Biots kann man nicht erklären. Es gibt keine Worte, um diese entsetzliche Verschmelzung zu beschreiben: seelenloses Insekt und Augen, die wie verwaschene, zerdrückte Varianten menschlicher Augen aussehen und irgendwie das Bild des Gesichts wiedergeben, von dem sie sich ableiten.
Der Biot 4.0, der Neue in der Klasse, stellte sich neben den älteren Biot, der an exakt dem Punkt die Stellung hielt, den sie zerstören wollten.
Das Ende einer langen Nadel ragte aus dem Gehirn unter ihren Füßen. Die Nadel war fast vollständig versenkt worden. Der Biot hielt sie mit einer Klaue gefasst. Es sah aus wie ein auf frischer Tat ertappter Mörder.
Der Säuresack, das eitrige, weißgraue Ei mit seinem brennenden Dotter, wurde in Position gehievt. Man hatte Plath angewiesen, ein kleines Loch hineinzustechen. Damit die Säure herausrinnen konnte, damit sie an der Nadel entlang hinab laufen konnte, hinunter in die Funken sprühenden Gehirnzellen, und auf ihrem Weg würde die Säure alles verbrennen.
»Ich bin da«, erklärte sie.
»Okay«, sagte Nijinsky. Per Handy war er mit Dr. Violet in Verbindung, die oben bei Vincent aufpasste. »Dr. Violet. Wir fangen jetzt an. Beobachten Sie ihn gut.«
Leise und blechern drang eine Stimme aus dem iPhone. »Was erwartet ihr? Dass es ihm plötzlich wieder gut geht? Dass er aufspringt und ›Hussa!‹ schreit? So einfach geht das nicht.«
Nijinsky gab keine Antwort. Stattdessen presste er die Lippen zusammen, holte tief Luft und sagte: »Fang an, Plath.«
Sie schob den Sack direkt über die Nadel. Mit einer Klaue riss sie ein kleines – selbst im Mikrobereich schien es nur zwei Zentimeter groß zu sein – Loch hinein. Erst kam keine Flüssigkeit heraus. Mit dem zweiten Bein drückte sie leicht gegen den Sack. Ein Tröpfchen bildete sich. Es war so klein, dass man es in der Makroebene nur mit einem wirklich guten Mikroskop
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