Cabal - Clive Barker.doc
lebt. Und Ihr Tod wird ihn aus seinem Versteck locken, da bin ich ganz sicher. Er wird sich zeigen müssen.«
Während er sprach, hob er langsam das Messer.
»Und sei es nur, um zu trauern.«
Plötzlich kam er auf sie zu. Sie pflanzte das Messer, das Sheryl getötet hatte, zwischen sich und ihn. Das verlang-samte ihn, aber er blieb nicht stehen.
»Könnten Sie es wirklich tun?« sagte er zu ihr. »Ich glaube nicht. Und ich spreche aus Erfahrung. Die Leute sind zimperlich, selbst wenn ihr Leben auf dem Spiel steht.
Und dieses Messer wurde schon an der armen Sheryl stumpf gemacht. Sie müßten wirklich bohren, um eine Spur in mir zu hinterlassen.«
Er sprach beinahe verspielt, während er immer noch näherkam. »Ich würde aber gerne sehen, wie Sie es versuchen«, sagte er. »Würde ich wirklich gerne. Würde gerne sehen, wie Sie es versuchen.«
Sie sah aus dem Augenwinkel, daß sie sich gestapelten Tellern genähert hatte, die sich nur Zentimeter von ihrem Ellbogen entfernt befanden. Sie fragte sich, ob sie ihre Zeit genug verschaffen konnten, zur Tür zu gelangen. Bei einem Kampf Messer gegen Messer mit diesem Wahnsinnigen würde sie zweifellos verlieren. Aber noch konnte sie ihn überlisten.
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»Los doch. Versuchen Sie es. Töten Sie mich, wenn Sie können. Für Boone. Für den armen, verrückten Boone...«
Als die Worte zu Gelächter wurden, warf sie die verletzte Hand um den Tellerstapel, zog ihn heran und schleuderte die Teller vor Decker auf den Boden. Ein zweiter Stapel folgte, dann ein dritter; Porzellanscherben flogen in alle Richtungen. Er wich einen Schritt zurück, die Hände schnellten vors Gesicht, um es zu schützen, und sie nutzte die Chance, solange sie sich noch bot, und raste zum Durchgang. Sie war schon im Restaurant selbst, bevor sie seine Verfolgung hörte. Bis dahin hatte sie aber soviel Vorsprung, daß sie die Tür ins Freie erreichen und sich nach draußen auf den Gehweg werfen konnte. Dort drehte sie sich sofort zu der Tür herum, durch die er kommen würde, aber er hatte nicht die Absicht, ihr ins Licht zu folgen.
»Schlaues Flittchen«, sagte er aus der Dunkelheit.
»Aber ich erwische dich. Wenn ich Boone habe, komme ich dich erledigen. Du kannst deine Atemzüge bis dahin zählen.«
Sie wich, ohne einen Blick von der Tür zu lassen, den Gehweg entlang zum Auto zurück. Erst jetzt wurde ihr klar, daß sie immer noch die Mordwaffe trug und ihr Griff so fest war, daß sie fast angeklebt zu sein schien. Sie hatte keine andere Wahl, als sie mitzunehmen und, zusammen mit ihren Beweisen, der Polizei zu übergeben. Als sie beim Auto war, machte sie die Tür auf, stieg ein und nahm den Blick erst von dem ausgebrannten Gebäude, nachdem sie die Verriegelung betätigt hatte. Dann warf sie das Messer vor dem Beifahrersitz auf den Boden, ließ den Motor an und fuhr davon.
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3
Die Möglichkeiten, die sie hatte, liefen auf folgendes hinaus : die Polizei oder Midian. Eine Nacht der Verhöre, oder eine Rückkehr zum Friedhof. Entschied sie sich für ersteres, würde sie Boone nicht warnen können, daß Decker hinter ihm her war. Aber angenommen, Decker hätte gelogen und Boone hätte die Kugeln nicht überlebt?
Sie würde nicht nur vom Schauplatz eines Verbrechens fliehen, sondern sich überdies in Reichweite der Nachtbrut begeben, und das vollkommen sinnlos.
Gestern hätte sie sich noch entschieden, zum Gesetz zu gehen. Sie hätte sich darauf verlassen, daß sein Vorgehen sämtliche Geheimnisse aufklären würde; daß sie ihre Geschichte glauben und Decker der Gerechtigkeit überant-worten würden. Aber gestern hatte sie auch noch geglaubt, daß Tiere Tiere waren, und Kinder Kinder; sie hatte gedacht, daß nur die Toten in der Erde lebten, und daß sie dort ihren Frieden hatten. Sie hatte gedacht, Doktoren, Ärzte würden heilen; und daß, wenn einem Wahnsinnigen die Maske abgenommen würde, sie sagen würde: »Aber natürlich, das ist das Gesicht eines Wahnsinnigen.«
Alles war falsch; alles war so falsch. Die gestrigen Überzeugungen waren vom Winde verweht. Alles konnte wahr sein.
Boone konnte noch am Leben sein.
Sie fuhr nach Midian.
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XII
Oben und unten
l
Auf dem Highway wurde sie von Visionen heimgesucht
– Nachwirkungen des Schocks und des Blutverlusts ihrer verbundenen, aber verletzten Hand. Wie Schnee wehte es gegen die Windschutzscheibe helle Flocken, für die das Glas kein Hindernis war und die heulend an ihr vorbeisausten. Der Traumzustand wurde
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