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Cabal - Clive Barker.doc

Cabal - Clive Barker.doc

Titel: Cabal - Clive Barker.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Admin
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umbringen«, hörte sie seine Warnung, während sie dem Geräusch entgegenlief. Es war zwar überall um sie herum, aber sie spürte seinen Ursprung. Mit jedem Schr itt, den sie ging, wurde es lauter und komplexer, Schichten rohen Geräusches, die alle einen anderen Teil von ihr ansprachen: Kopf, Herz, Lenden.
    Ein rascher Blick zurück bestätigte, was sie bereits vermutet hatte: Lylesburg unternahm keinen Versuch, ihr zu folgen. Sie bog um eine Ecke, dann noch eine, und die Untertöne der Stimme vervielfachten sich immer noch, bis sie mit gesenktem Kopf und gebückten Schultern dagegen anlief wie gegen einen Sturm.

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    Jetzt lagen keine Kammern mehr am Weg, und daher gab es auch kein Licht. Vor ihr jedoch sah sie ein Leuchten
    – veränderlich und kalt, aber so hell, daß es sowohl den Boden beleuchtete, über den sie stolperte, der aus bloßer Erde bestand, als auch den silbernen Frost an den Wänden.
    »Boone?« rief sie. »Bist du da, Boone?«
    Nach dem, was Lylesburg gesagt hatte, rechnete sie nicht zu sehr mit einer Antwort, aber sie erhielt eine. Seine Stimme drang aus dem Kern von Licht und Ton vor ihr heraus. Aber sie hörte durch das Getöse nur:
    »Nicht...«
    Was nicht? fragte sie sich.
    Nicht näher kommen? Nicht hier zurücklassen?
    Sie lief langsamer und rief noch einmal, aber der Lärm, den der Täufer machte, übertönte mittlerweile ihre Stimme, ganz zu schweigen von einer möglichen Antwort. Sie war so weit gegangen, daß sie weiter mußte, auch wenn sie nicht wußte, ob sein Ruf eine Warnung gewesen war oder nicht.
    Vor ihr lag der Durchgang zu einem Hang – einem steilen Hang. Sie blieb auf der Kuppe stehen und blinzelte in die Helligkeit. Das war Baphomets Loch, kein Zweifel.
    Der Lärm, de n er machte, zerstäubte die Mauern und wehte ihr den Staub ins Gesicht. Tränen traten ihr in die Augen und wuschen den Schmutz weg, aber es kam immer mehr. Von der Stimme taub und vom Licht blind gemacht, taumelte sie auf der Kuppe der Erhebung und konnte weder vorwärts noch zurück gehen.
    Plötzlich verstummte der Täufer, die Schichten seiner Laute starben alle zusammen und vollständig.
    Die Stille, die folgte, war erschreckender als der Lärm, der ihr vorangegangen war. Hatte er den Mund zugemacht, weil er wußte, daß er einen Eindringling in seiner 145

    Mitte hatte? Sie hielt den Atem an und wagte keinen Laut von sich zu geben.
    Am Fuß des Hangs befand sich ein heiliger Ort, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Als sie vor Jahren mit ihrer Mutter in den großen Kathedralen Europas gestanden und Fenster und Altäre betrachtet hatte, hatte sie nicht annähernd die Woge der Erkenntnis verspürt, die sie jetzt überkam. In ihrem ganzen Leben – wachend oder träumend – hatten keine so widersprüchlichen Im-pulse in ihr gekämpft. Von ganzem Herzen wünschte sie sich, von diesem Ort zu fliehen – wollte ihn verlassen und vergessen; und doch rief er sie auch. Nicht Boones Anwesenheit dort rief sie, sondern der Sog des Heiligen oder Unheiligen oder die beiden in einem; und er würde keinen Widerspruch dulden.
    Inzwischen hatten ihre Tränen den Staub aus ihren Augen gespült. Sie hatte keine andere Ausrede mehr als Feigheit, wenn sie blieb, wo sie stand. Sie ging langsam den Hügel hinab. Es war ein Abstieg von etwa dreißig Metern, aber sie hatte nicht mehr als ein Drittel davon zurückgelegt, als auf dem Grund eine vertraute Gestalt sichtbar wurde.
    Sie hatte Boone zum letzten Mal oben gesehen, als er herausgekommen war, um sich Decker entgegenzustel-len. In den Sekunden, bevor sie ohnmächtig geworden war, hatte sie ihn gesehen wie nie zuvor: wie einen Mann, der Schmerzen und Niederlagen völlig vergessen hatte.
    Jetzt nicht. Er konnte sich kaum aufrecht halten.
    Sie flüsterte seinen Namen, und das Wort gewann an Masse, während es auf ihn zu rollte.
    Er hörte es und hob den Kopf in ihre Richtung. Nicht einmal in seinen schlimmsten Zeiten, als sie ihn gewiegt und gehalten hatte, um das Grauen fernzuhalten, hatte sie in seinem Gesicht einen solchen Kummer gesehen wie 146

    jetzt. Tränen strömten, und sein Gesicht war so runzlig vor Sorge, daß es fast wie das eines Babys wirkte.
    Sie ging weiter hinab, und jeder Laut, den ihre Füße erzeugten, jeder winzige Atemzug, den sie machte, wurde von der Akustik des Hangs verstärkt.
    Als er sie näherkommen sah, ließ er seine Stütze los, um sie wegzuwinken, aber als er das tat, verlor er den einzigen Halt und stürzte heftig. Sie ging

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