Cabal - Clive Barker.doc
Wein.
Sie wich einen Schritt von der Wand zurück, ihr Magen drehte sich um.
Dieser Saft stammte nicht von Obst...
Noch ein Schritt.
...sondern von Fleisch. Und wenn sie Blut roch, dann sah sie auch Blut, und wenn sie Blut sah, dann schliefen 159
die Schläfer auch nicht, denn wer legt sich schon in einem Schlachthaus nieder? Nur die Toten.
Sie ging rasch zur Tür. Boone stand nicht mehr am Ende des Flurs, er kauerte an der Wand und hatte die Knie umklammert. Als er sich zu ihr wandte, sah sie, daß sein Gesicht gequält zuckte.
»Steh auf«, sagte sie zu ihm.
»Ich rieche Blut«, sagte er leise.
»Du hast recht. Also steh auf. Rasch. Hilf mir.«
Aber er war starr; am Boden festgewachsen. Sie kannte diese Haltung von früher nur zu gut: in einer Ecke zusam-mengekauert und zitternd wie ein geprügelter Hund.
Früher hatte sie tröstende Worte gehabt, aber jetzt war keine Zeit für einen solchen Trost. Vielleicht hatte jemand das Blutbad im Nebenzimmer überlebt. Wenn ja, dann mußte sie helfen, mit oder ohne Boone. Sie drückte die Klinke der Schlachthaustür nieder und öffnete sie.
Als ihr der Geruch des Todes entgegenschlug, fing Boone an zu stöhnen.
» ... Blut.. . « , hörte sie ihn sagen.
Überall Blut. Sie stand eine volle Minute da und sah es sich an, bevor sie sich zwang, über die Schwelle zu gehen und nach einem Anzeichen von Leben zu suchen. Doch selbst der oberflächlichste Blick auf die sechs Leichen zeigte, daß alle sechs vom selben Alptraum dahingerafft worden waren. Und sie kannte auch seinen Namen. Er hatte sein Markenzeichen hinterlassen und ihre Gesichtszüge mit dem Messer verwüstet wie die von Sheryl. Drei der sechs hatte er in flagrante delicto erwischt. Zwei Männer und eine Frau lagen teilweise entkleidet in tödlicher Umarmung auf dem Bett. Die anderen waren gestorben, während sie im Alkoholrausch im Zimmer herumlagen, höchstwahrscheinlich ohne zu erwachen. Sie legte die Hand vor den Mund, um den Geruch draußen und ihr 160
Schluchzen drinnen zu halten, und so wich sie aus dem Zimmer zurück. Als sie auf den Flur hinaustrat, sah sie am Rande ihres Blickfeldes Boone. Er saß nicht mehr unten, sondern kam zielstrebig den Flur entlang auf sie zu.
»Wir müssen... hier... raus«, sagte sie Er zeigte kein Anzeichen, ob er ihre Stimme überhaupt gehört hatte, sondern ging an ihr vorbei zu der offenen Tür.
»Decker...« sagte sie, »...es war Decker.«
Er antwortete immer noch nicht.
»Sprich mit mir, Boone.«
Er murmelte etwas...
»Er könnte noch hier sein«, sagte sie. »Wir müssen uns beeilen.«
...trat aber bereits ein, um sich das Gemetzel näher anzusehen. Sie verspürte keinen Wunsch, es noch einmal zu betrachten. Statt dessen kehrte sie ins Nebenzimmer zurück, um rasch zu Ende zu packen. Während sie damit beschäftigt war, hörte sie, wie sich Boone im Nebenzimmer bewegte, und sein Atem war beinahe schmerzerfüllt.
Da sie ihn nicht allzu lange allein lassen wollte, gab sie es auf, etwas anderes als die offensichtlichsten Stücke zu-sammenzusuchen – darunter als wichtigstes Fotos und ein Adreßbuch –, und nachdem sie das getan hatte, trat sie wieder auf den Flur hinaus.
Das Heulen von Polizeisirenen begrüßte sie, und deren Panik stachelte ihre eigene an. Die Autos waren zwar noch ein gutes Stück entfernt, aber es konnte kein Zweifel an ihrem Ziel bestehen. Sie wurden mit jedem Heulton lauter, und sie kamen gierig nach den Schuldigen zum Sweetgrass.
Sie rief nach Boone.
»Ich bin fertig!« sagte sie. »Gehen wir!«
Keine Antwort aus dem Nebenzimmer.
161
»Boone?«
Sie ging zur Tür und bemühte sich, die Leichen nicht anzusehen. Boone stand auf der anderen Seite des Zimmers, seine Silhouette hob sich gegen die Vorhänge ab.
Sein Atem war nicht mehr zu hören.
»Hast du nicht gehört?« sagte sie.
Er bewegte keinen Muskel. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht lesen – es war zu dunkel –, aber sie konnte sehen, daß er die Sonnenbrille abgenommen hatte.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte sie. »Würdest du bitte mit mir kommen?«
Während sie sprach, atmete er aus. Es war kein normaler Atem, das wußte sie schon, bevor der Rauch aus seinem Hals kam. Als dieser strömte, hielt er die Hände vor den Mund, wie um ihn aufzuhalten, aber sie hielte n vor seinem Kinn inne und fingen an zu zucken.
»Geh weg«, sagte er mit demselben Atem, der den Rauch zutage förderte.
Sie konnte sich nicht bewegen, nicht einmal den Blick von ihm
Weitere Kostenlose Bücher