Cabal - Clive Barker.doc
denn?« fragte Boone.
Sie sagte es ihm.
»Vielleicht wäre es sicherer, wenn ich allein hingehen würde«, sagte sie. »Wenn es sicher ist, hole ich meine Sachen und komme zu dir zurück.«
»Nein«, sagte er. »Das ist nicht so gut.«
Sie konnte seine Augen hinter der Sonnenbrille nicht sehen, aber seine Stimme klang ängstlic h.
»Ich beeile mich«, sagte sie.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Es ist besser, wenn wir zusammenbleiben«, antwortete er. Er legte die Hände vors Gesicht, wie am Tor von Midian. »Laß mich nicht allein«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich weiß nicht, wo ich bin, Lori. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin. Bleib bei mir.«
Sie beugte sich zu ihm hinüber und küßte seine Hand-rücken. Er ließ die Hände vom Gesicht sinken. Sie küßte seine Wange, dann den Mund. Sie fuhren gemeinsam weiter zum Inn.
Ihre Befürchtungen erwie sen sich als unbegründet.
Falls Sheryls Leichnam tatsächlich über Nacht gefunden worden war – was unwahrscheinlich schien, bedachte man den Ort, wo er war –, hatte niemand die Verbindung zum Inn hergestellt. Es war nicht nur keine Polizei da, die ihnen den Weg versperrte, es war überhaupt kein Anzeichen von Leben zu entdecken. Nur ein Hund kläffte in einem der oberen Zimmer, und irgendwo schrie ein Baby. Sogar die Halle war verlassen, der Portier am Empfang war so sehr mit der Morning-Show beschäftigt, daß er seinen Posten vernachlässigte. Das Geräusch von Lachen und Musik folgte ihnen durch die Halle und die Treppe hinauf bis zum ersten Stock. Obwohl alles glatt ging,
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zitterten Loris Hände so sehr, als sie das Zimmer erreichten, daß sie kaum den Schlüssel ins Schloß stecken konnte. Sie drehte sich um, damit sie Boone um Hilfe bitten konnte, mußte aber feststellen, daß er nicht mehr dicht hinter ihr war, sondern auf der obersten Treppenstufe verharrte und im Flur hin und her sah. Sie verfluchte wieder die Brille, die verhinderte, daß sie seine Gefühle in aller Deutlichkeit lesen konnte. Wenigstens nicht, bis er an die Wand zurückwich und seine Finger einen Halt suchten, der nicht da war.
»Probleme, Boone?«
»Hier ist niemand«, erwiderte er.
»Nun, das ist doch gut für uns, nicht?«
»Aber ich rieche...«
»Was riechst du?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sag es mir.«
»Ich rieche Blut.«
»Boone?«
»Ich rieche soviel Blut.«
»Wo? Woher?«
Er antwortete nicht und sah auch nicht in ihre Richtung, sondern ging den Flur hinab.
»Ich beeile mich«, sagte sie zu ihm. »Bleib einfach, wo du bist, ich bin gleich wieder bei dir.«
Sie ließ sich auf die Hacken nieder und nestelte unge-schickt den Schlüssel ins Schloß, dann stand sie auf und öffnete die Tür. Aus dem Zimmer drang kein Blutgeruch, nur ein Hauch des abgestandenen Parfüms der vergangenen Nacht. Das erinnerte sie sofort an Sheryl und die schöne Zeit, die sie inmitten von allem Schlechten miteinander verbracht hatten. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sie noch in diesem Zimmer gelacht und von ihrem Mörder als dem Mann ihrer Träume gesprochen.
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Als sie an den dachte, sah Lori wieder zu Boone. Er war immer noch an die Wand gepreßt, als wäre dies die einzige Möglichkeit sicherzustellen, daß die Welt nicht umkippte.
Sie ließ ihn stehen und betrat das Zimmer, um zu packen.
Zuerst ins Bad, um ihre Waschsachen zu holen, dann wieder ins Schlafzimmer, wo sie die verstreuten Klei-dungsstücke einsammelte. Erst als sie ihre Tasche aufs Bett stellte, um sie zu packen, sah sie den Riß in der Wand.
Es war, als wäre etwas von der anderen Seite mit großer Gewalt dagegengeschleudert worden. Der Verputz war stellenweise abgebröckelt und lag zwischen den beiden Betten auf dem Boden. Sie sah den Riß einen Augenblick an. War die Party so unbeherrscht geworden, daß sie angefangen hatten, Möbelstücke an die Wände zu werfen?
Sie ging neugierig zu der Wand hinüber. Diese war wenig mehr als eine Gipstrennwand, und an einer Stelle hatte die Wucht des Stoßes gegenüber sogar ein Loch herausgebrochen. Sie zog ein Stück losen Verputz weg und preßte das Auge an das Loch.
Im Nebenzimmer waren die Vorhänge noch zugezogen, aber die Sonne schien so hell, daß sie hereindrang und der Luft einen düsteren Ockerfarbton verlieh. Sie dachte, daß die Party der gestrigen Nacht noch ausgelas-sener als die der vorhergehenden gewesen sein mußte.
Weinflecken an den Wänden, und die Feiernden schliefen noch auf dem Boden.
Aber der Geruch: Das war kein
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