Cabal - Clive Barker.doc
nehmen. Und der Qualm war nicht so dicht, daß sie die Veränderungen nicht gesehen hätte; sein Gesicht ordnete sich hinter dem Schleier neu, Licht brannte in seinen Armen und stieg in Wellen zum Hals, um die Schädelknochen zu schmelzen.
»Ich will nicht, daß du das siehst«, flehte er mit erlöschender Stimme.
Zu spät. Sie hatte in Midian den Mann mit Feuer in den Knochen gesehen; und den Maler mit dem Hundekopf; und daneben noch mehr: Boone hatte alle ihre Krankheiten in sich, er gab vor ihren Augen seine Menschlichkeit auf. Er war der Stoff, aus dem Alpträume werden. Er heulte mit zurückgeworfenem Kopf, während sich sein Gesicht auflöste.
Der Laut wurde jedoch beinahe von den Sirenen über-162
tönt. Sie konnten nicht mehr weiter als eine Minute von der Tür entfernt sein. Wenn sie jetzt ging, konnte sie ihnen vielleicht noch entrinnen.
Boone vor ihr war vollkommen verwandelt. Er senkte den Kopf, Reste des Rauches verpufften um ihn herum. Dann setzte er sich in Bewegung, seine neuen Muskeln trugen ihn gewandt wie einen Athleten.
Sie hoffte selbst jetzt noch, daß er die Gefahr begriff, in der er schwebte, und zur Tür kam, um sich retten zu lassen. Aber nein. Er ging zu den Toten, wo die menage a trois immer noch lag, und bevor sie die Geistesgegenwart hatte und wegsah, ergriff eine seiner Krallenhände einen Leichnam der Gruppe und zog ihn nach oben zum Mund.
»Nein, Boone!« kreischte sie. »Nein!«
Ihre Stimme drang zu ihm durch, oder zu dem im Chaos des Monsters verlorenen Teil, der immer noch Boone war. Er ließ das Fleisch ein wenig sinken und sah zu ihr auf. Er hatte immer noch seine blauen Augen, und sie waren voller Tränen.
Sie ging auf ihn zu.
»Nicht«, flehte sie.
Einen Augenblick schien er Liebe und Hunger gegeneinander aufzuwiegen. Dann vergaß er sie und hob das Menschenfleisch an die Lippen. Sie sah nicht zu, wie sich seine Kiefer darum schlossen, aber sie hörte das Geräusch und mußte alle Anstrengung aufbieten, um bei Bewußtsein zu bleiben, als sie ihn reißen und kauen hörte.
Unten quietschten Bremsen, schlugen Türen zu. Noch ein paar Augenblicke, dann würden sie das Gebäude um-stellt haben und jede Fluchtmöglichkeit abriegeln; Augenblicke später würden sie die Treppe heraufstürmen. Sie hatte keine andere Wahl, als die Bestie ihrem Hunger zu überlassen. Boone war für sie verloren.
Sie beschloß, nicht den Weg zurückzugehen, den sie 163
gekommen waren, sondern über die hintere Treppe. Es war eine gute Entscheidung; gerade als sie um die Bie-gung des oberen Flurs verschwand, hörte sie die Polizei am anderen Ende gegen Türen klopfen. Wenig später hörte sie die Laute eines gewaltsamen Eindringens über sich, gefolgt von einem Aufschrei des Ekels. Sie konnten Boone nicht gefunden haben, er war nicht hinter einer verschlossenen Tür. Sie hatten eindeutig etwas anderes auf dem oberen Flur gefunden. Sie mußte die Frühnachrich-ten nicht abwarten, um das zu hören. Ihre Instinkte sagten ihr laut und deutlich, wie gründlich Decker in der Nacht vorgegangen war. Irgendwo im Gebäude war ein Hund am Leben, und Decker hatte in seinem Wahn ein Baby übersehen, aber den Rest hatte er umgebracht. Er war nach seiner Niederlage in Midian direkt hierher gekommen und hatte jede lebende Seele im Hotel ermordet.
Die ermittelnden Beamten oben und unten stellten gerade eben diese Tatsache fest, und der Schock machte sie unaufmerksam. Sie hatte keine Mühe, aus dem Gebäude zu schlüpfen und im Unterholz dahinter zu verschwinden. Erst als sie den Schutz der Bäume erreicht hatte, kam einer der Polizisten um das Gebäude herum, doch selbst der hatte etwas anderes zu tun als zu suchen. Als seine Kollegen ihn nicht mehr sehen konnten, kotzte er sein Frühstück in den Sand, dann wischte er sich den Mund sorgfältig mit einem Taschentuch ab und ging wieder an die Arbeit.
Sie wartete in der Gewißheit, daß sie außerhalb des Gebäudes erst eine Suche anfangen würden, wenn sie drinnen fertig waren. Was würden sie mit Boone machen, wenn sie ihn fanden? Wahrscheinlich niederschießen. Ihr fiel nichts ein, um das zu verhindern. Aber die Minuten verstrichen, und sie hörte zwar Rufe in dem Gebäude, 164
aber keine Schüsse. Inzwischen mußten sie ihn gefunden haben. Vielleicht würde sie von der Vorderseite des Ge-bäudes besser mitbekommen, was vor sich ging.
Das Inn war auf drei Seiten von Büschen und Bäumen abgeschirmt. Es war nicht schwer, durch das Unterholz zur
Weitere Kostenlose Bücher