Cabal - Clive Barker.doc
aber die alten Bedürfnisse blieben dieselben: der Körper mußte essen, mußte schla -
fen. Nachdem sie das Sweetgrass Inn verlassen hatte, befriedigte Lori das erste davon, lief durch die Straßen, bis sie ein anonymes und überfülltes Geschäft gefunden hatte und kaufte dort ein paar Nahrungsmittel zum sofortigen Verzehr: mit Vanillecreme gefüllte Krapfen und Apfelku-chen, Schokomilch, Käse. Dann setzte sie sich in die Sonne und aß, und ihr benommener Verstand konnte kaum an mehr als an die simplen Aufgaben von Beißen, Kauen und Schlucken denken. Das Essen machte sie so schläfrig, daß sie die Lider nicht einmal offenhalten hätte können, wenn sie es versucht hätte. Als sie erwachte, lag ihre Straßenseite, die in der Sonne gewesen war, im Schatten. Die Steinstufe war kalt, ihr Körper schmerzte.
Doch das Essen und der Rest, wie primitiv auch immer, hatten ihr geholfen. Ihre Gedanken waren jetzt etwas geordneter.
Sie hatte wenig Grund zum Optimismus, soviel stand fest, aber als sie zum ersten Mal durch diese Stadt gekommen war, um die Stelle zu finden, wo Boone starb, war die Situation auswegloser gewesen. Damals hatte sie geglaubt, daß der Mann, den sie liebte, tot war; es war die Reise einer Witwe gewesen. Jetzt war er wenigstens am Leben, auch wenn Gott allein wußte, welches Grauen, das er sich in den Grüften von Midian zugezogen hatte, ihn beherrschte. Bedachte man diese Tatsache, war es vielleicht gut, daß er in den sicheren Händen des Gesetzes war, dessen langsames Vorgehen ihr Zeit lassen würde, ihre Probleme zu durchdenken. Deren dringendstes war, Decker zu demaskieren.
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Niemand konnte doch so viele Menschen umbringen, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. Vielleicht im Restaurant, wo er Sheryl ermordet hatte. Sie bezweifelte, daß er die Polizei dorthin führen würde, wie er sie zum Inn geführt hatte. Wenn er alle Stätten von Morden kannte, würde das zu sehr nach Mitwisserschaft mit dem Täter aussehen. Er würde warten, bis der andere Leichnam durch Zufall gefunden würde, weil er wußte, die Tat würde auch Boone zugeschrieben werden. Was bedeutete
– möglicherweise –, daß der Schauplatz noch unberührt war und sie nicht einen Hinweis finden konnte, der ihn bela sten würde; oder wenigstens einen Riß in der make l-losen Fassade seines Gesichts auftun.
Zu der Stelle zurückzukehren, wo Sheryl gestorben war und sie Deckers Provokationen erduldet hatte, würde kein Spaziergang werden, aber es war die einzige Alternative zur Niederlage, die sie erlitten hatte.
Sie beeilte sich. Bei Tage hatte sie Hoffnung, sie würde genügend Mut aufbringen, durch die verbrannte Tür zu gehen. Bei Nacht war das wieder etwas anderes.
3
Decker sah zu, wie Eigerman seinen Deputies Anweisungen erteilte; vier Männern, die mit ihrem Chef das Aussehen von Mensch gewordenen Bullen gemeinsam hatten.
»Ich vertraue unserem Informanten«, sagte er großmütig und warf Decker einen Blick zu, »und wenn er mir sagt, daß in Midian Schlimmes vor sich geht, sollte man meiner Meinung nach auf ihn hören. Ich möchte, daß ihr euch ein wenig umseht. Sehen, was es zu sehen gibt.«
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»Wonach genau suchen wir?« wollte einer der Gruppe wissen. Sein Name war Pettine. Ein Vierzigjähriger mit dem breiten, leeren Gesicht einer Bauchrednerpuppe, einer zu lauten Stimme und einem zu dicken Bauch.
»Nach allem Unheimlichen«, sagte Eigerman zu ihm.
»Nach Leuten, die mit den Toten herumgemacht haben?« fragte der Jüngste der vier.
»Könnte sein, Tommy«, sagte Eigerman.
»Mehr als das«, warf Decker ein. »Ich glaube, Boone hat Freunde in dem Friedhof.«
»Ein Scheißkerl wie der hat Freunde?« sagte Pettine.
»Bin aber verdammt gespannt, wie die aussehen.«
»Nun, ihr werdet sie mitbringen, Jungs.«
»Und wenn sie nicht mitkommen?«
»Was willst du damit sagen, Tommy?«
»Wenden wir Gewalt an?«
»Mach andere fertig, Junge, bevor sie dich fertigma-chen.«
»Es sind gute Männer«, sagte Eigerman zu Decker, als das Quartett losgeschickt worden war. »Wenn es dort etwas zu finden gibt, werden sie es finden.«
»Gut und schön.«
»Ich sehe nach dem Gefangenen. Kommen Sie mit?«
»Ich habe von Boone mehr gesehen, als ich je sehen wollte.«
»Kein Problem«, sagte Eigerman und überließ Decker seinen Berechnungen.
Er hätte sich beinahe dafür entschieden, mit den Polizisten nach Midian zu gehen, aber hier war zuviel Arbeit zu tun, beispielsweise den Boden für die bevorstehenden
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