Café der Nacht (German Edition)
unromantisches Röcheln in der Stille des Morgens. Draußen stahl sich auf grauen Schwingen der Tagesanbruch heran. Merlyn war aufgewacht und hatte sofort gewusst, dass er nicht wieder würde einschlafen können, als sich seine Gedanken umgehend in Bewegung gesetzt hatten. Auf dem Tisch lag die Einladungskarte, teures Papier, goldene Schrift. Im Inneren ein Bild, das zwei Gesichter zeigte, mit seinem unverkennbar verwandt. Silberhochzeit. Als wollten sie ihm damit sagen: So lange solltest du in unserem Leben sein. In der Handschrift seiner Mutter war etwas hinzugefügt worden.
Andreas,
wir würden uns freuen, wenn Du kommen könntest.
In Liebe,
Mutter und Vater
In Liebe. Merlyn seufzte. Geistesabwesend zwirbelte er eine Strähne seines langen, schwarzen Haars zwischen den Fingern. Es stand außer Frage, dass er sich diesen Affenzirkus nicht antun würde. Das verstohlene Gaffen seiner Verwandtschaft, das Getuschel hinter seinem Rücken war wahrlich nichts, wonach er im tiefsten Herzen lechzte. Er war der bunte Vogel, das schwarze Schaf, die Schwuchtel, der Junge, der sich schminkte. Der Versager, aus dem doch einer hätte werden sollen, mit dem man prahlen konnte.
Fadil machte ein grunzendes Geräusch im Schlaf, und Merlyn musste sich ein Lachen verbeißen. Zärtlich ruhte sein Blick auf dem schlummernden Körper, dunkler Haarschopf im Kissen. Es war sein Leben, genau das Leben, das er gewollt, für das er sich entschieden hatte. Dabei hatte er ein großer Pianist werden wollen, solange er denken konnte. Es hatte nie eine Alternative gegeben. Seine Eltern hatten ihn von klein auf intensiv gefördert, waren überzeugt von ihrem Wunderknaben gewesen, hatten ihn überall gerne präsentiert. Ihr Ehrgeiz war schon früh auf ihn übergesprungen. Während seine Altersgenossen ausgelassen in der Sonne herumgetobt hatten, hatte er geübt, geübt, geübt, bis ihm die Finger schmerzten. Es war hart, oft Quälerei, nicht selten hatte er heiße, bittere Tränen geweint. Noch vor dem Einschlafen war er im Bett die Stücke durchgegangen. Sein Kopf hatte gesummt während er die Finger dazu auf einer imaginären Tastatur bewegt hatte. Er hatte in Noten geträumt, Etüden, Beethoven, Schumann, Litolff, Chopin, Rachmaninov. Mit zwölf als Förderpreisträger in der Royal Albert Hall, Mozart, Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll. Stehende Ovationen wie Donnerbrausen. Noch heute bekam er Gänsehaut, wenn er daran dachte.
Es war auf dem Weg zu einem Musikwettbewerb in Dänemark geschehen, als er sechzehn war. Der Wagen hatte sich vier Mal überschlagen, während er den Abhang hinuntergestürzt war. Merlyn erinnerte sich nur daran, gedacht zu haben: Jetzt ist es aus. Als er im Krankenhaus aufgewacht war, war seine linke Gesichtshälfte seltsam taub, pelzig gewesen, hatte sich riesengroß angefühlt. Verbände an den Armen, Schmerzen, Pochen, Drücken im Brustkorb, in der Magengegend. Im Handrücken eine piekende Infusionsnadel. Ihm hatte sich alles vor Augen gedreht. Er hätte sich am liebsten übergeben wollen. Er hatte sofort mit seltener Klarheit gespürt, dass von nun an nichts mehr sein würde, wie zuvor. Doch er hatte nicht ahnen können, dass sein Gesicht für immer entstellt war.
Das Zimmer war groß gewesen, zum Gang hin eine Glasscheibe. Seine Mutter hatte davor gestanden und mit zwei Ärzten gesprochen. Sie hatte sich mehrmals ein Taschentuch an die Augen gepresst.Vorsichtig, um die rußschwarze Wimperntusche nicht zu verschmieren. „Mach dir keine Sorgen“, hatte sie gesagt, als sie sich schließlich an seinem Bett niedergelassen hatte. „Sie sind sehr optimistisch. Du wirst wieder ganz gesund werden.“
„Meine Hände ...“
„Sind nicht gebrochen, Liebling. Du wirst genauso spielen können wie zuvor.“ Sie hatte geschwiegen und starr gelächelt, ohne sein Gesicht anzublicken. „Es ist wirklich nicht so schlimm, auch wenn es uns zurückwirft. Wir werden Montreal verpassen, und möglicherweise Bozen. Aber bis zum Nikolai Rubinstein International bist du wieder fit, dafür werden wir schon sorgen. Du wirst ganz sicher teilnehmen können.“
Merlyn hatte sie angestarrt. Er hatte nicht fassen können, wie ihr in diesem Moment dies das Wichtigste sein konnte, das sie ihm mitzuteilen hatte. „Was ist mit Elsa und Torben?“ Sie hatte ihn nicht angesehen und lediglich langsam den Kopf geschüttelt. Merlyn waren augenblicklich Tränen in die Augen geschossen, fassungslos.
Er schauderte noch bei der Erinnerung an
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