Café der Nacht (German Edition)
nichts.
Dela betrachtete ihn, während sie sich im Stuhl zurücklehnte. „Wie geht es deiner Großmutter?“
Er ließ den Blick zum Fenster schweifen und sah hinaus. Dunkel nagte das Schuldgefühl an ihm. „Sie kümmern sich gut um sie.“
„Das war nicht meine Frage.“
Er blickte sie kurz an. Seine Gesichtsmuskulatur war angespannt. „Was soll ich sagen? Sie hat gute und schlechte Tage. Es ist, als ob sie verwelkt. Irgendwann wird nichts mehr von ihr übrig sein.“
„Das tut mir so leid, Rufus. Ich weiß, es geht mich nichts an. Aber vielleicht bereust du es später, wenn du die Zeit nicht nutzt, die euch zusammen bleibt. Du solltest zu ihr fahren und sie besuchen.“
Rufus sah weg. „Ich werd dann mal wieder.“
„In Ordnung. Aber denk darüber nach, wann du Urlaub möchtest. Ich muss darauf bestehen, hörst du?“
Er lächelte flüchtig, nickte nochmals und verließ den Raum. Tatsächlich begann er, darüber nachzudenken, hatte das Thema jedoch rasch wieder verdrängt. Rufus’ Tag verlief in gewohnten Bahnen, Spurrinnen auf einer schnurgeraden Straße. Es war genau das, was er an seiner Arbeit im Café der Nacht schätzte. Nach den zermürbenden Jahren als Jugendsozialarbeiter schätzte er die Tranquilität, die sie ihm bot. Er hatte immer geglaubt, etwas zurückgeben zu müssen, die Schuld begleichen. Es war hart gewesen, einzusehen, dass er es nicht konnte. Er wollte nicht tagtäglich konfrontiert sein mit der Ausweglosigkeit geprügelter Kinder und desillusionierter Jungkrimineller, die mit jedem Tag weiter fortdrifteten von einer lebenswerten Zukunft. Nicht ständig erinnert werden an seine Jugend, daran, selbst einmal in den Schlund aus Drogen und Sinnlosigkeit geblickt zu haben. Wäre seine Großmutter nicht gewesen, energisch und stark, er hätte ihn verschluckt. Und nun musste er zusehen, wie der Dämon Demenz sie zwischen seinen Klauen zermalmte und sie sich selbst verlor. Dela mochte recht haben und er würde es später bereuen, doch er konnte seine Großmutter so nicht sehen. Urlaub bedeutete, dem ins Gesicht zu sehen. Urlaub bedeutete Schmerz.
Es war spät am Abend, die Stimmung gut, der Umsatz stimmte. Es roch an der Bar hefig nach verschüttetem Bier. Ein Gast war vor dem Tresen angerempelt worden und hatte sein Glas fallen lassen. Mal wieder. Rufus kehrte ohne Murren die schaumige Flüssigkeit mit den Scherben auf dem Boden zusammen.
In der Ecke schickte sich Cosmo im Kreis von Monroes Meute an, das Klavier mit seinem stümperhaften Geklimper zu ermorden, was Merlyn, der mit seinem neuen Freund an der Bar saß, mit fasziniertem Grauen beobachtete. In einer Nische rauchte die altbekannte Kifferbande nicht ganz so heimlich, wie sie glaubte, den vierten Joint. Elsa übergab sich seit zehn Minuten im Flur vor der Toilette. Jeudi und das Kätzchen besetzten den üblichen Tisch bei der Treppe und lästerten genüsslich, während sich Bernadette und Iphigenie, die endlich mitbekommen hatten, dass sie beide mit demselben Mann schliefen, erbost ankeiften. Linus kippte vom Stuhl, bevor er seinen persönlichen Trinkrekord hatte brechen können. Männergeschichten, Frauengeschichten und alles, was dazwischen lag. Ein ganz normaler Abend im Café der Nacht.
„Das gibt’s doch nicht. Nona!“ Merlyns Stimme ließ Rufus sich ruckartig aufrichten. Sein Blick flog zur Treppe hinüber. Die junge Frau, die dort suchend um sich schaute, war ihm so vertraut und schien zugleich so fremd. Rufus starrte sie regungslos an. Nona. Seine kleine Nona. Vor Maxims Ankunft war sie das jüngste Mitglied von Delas illustrer kleiner Café-Familie gewesen, das Nesthäkchen. Wie eine kleine Schwester für ihn. Er hatte sie beschützt, wenn es nötig war, hatte für ihre Sorgen und Nöte immer ein offenes Ohr gehabt. Und sie, dieses süße, sanfte Persönchen hatte es irgendwie geschafft, seine reservierte Barrikade zu überwinden, ihm nahezukommen, um ihrerseits für ihn da zu sein. Und nun, das. In ihrer einjährigen Abwesenheit war Nona zur strahlenden Schönheit geworden. Flügge, erwachsen. Er konnte es kaum glauben. Nona war erfrischend natürlich und reizend, hellblond gelockt, die Art von Mädchen, für die wohlhabende ältere Herren ihre nicht mehr ganz taufrischen Gattinnen verlassen. Rufus’ Herz begann unerwartet heftig zu schlagen.
„Nona!“, rief Merlyn laut. Als sie ihren Namen über die vielen Köpfe hinweg hörte, winkte sie mit strahlendem Lächeln herüber. Das Lächeln wurde weicher,
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