Café der Nacht (German Edition)
diesen ohnmächtigen Horrortag, der ihm seinen Klavierlehrer und seine beste Freundin entrissen hatte. Ihm zugleich einen Teil seiner Seele. Du bist nicht, der du bist. Du bist nicht du. Du bist eine Ratte, eine Ratte im Laufrad. Gedanken wie diese hatte er während seines langwierigen Klinikaufenthalts nicht aus dem Kopf bekommen. Die Übungstastatur hatte derweil unberührt neben dem hohen Eisenbett gelegen. Ein Bett mit Gestänge, wiegenartig, entmündigend, entwürdigend. Er musste in einen gebogenen Becher pissen. Sein ganzes Leben, eine Farce, eine Manipulation, so geschickt, so heimtückisch.
Auf seinem kühlen Fenstersims fragte sich Merlyn, was für ein Mensch er wohl geworden wäre, wäre er auf diesem Weg geblieben. Ob er nun er selbst war, wer konnte das sagen? An manchen Tagen, in manchen Momenten vielleicht. Vielleicht in diesem, hier und jetzt, in der Morgenstille. Der Himmel schimmerte atemberaubend tiefpink.
Noch heute lag er wie ein Schauder auf seiner Haut, der Moment, in dem er seinen Eltern den Entschluss mitgeteilt hatte. Er hatte sie fest angesehen, Mutter und Vater, die glühenden Tränen ignorierend, die ihm dabei über die Wangen gelaufen waren. „Nie mehr. Nie mehr werde ich für euch auftreten, hört ihr? Das ist für immer vorbei.“
* * *
Maxim kam, wann immer er einen freien Donnerstagabend bekommen konnte, ins Kaleidoskop, um die Revoschizionäre zu sehen. In der Truppe hatte jeder einen festen Part. Jeudi kokettierte kess mit den Männern, Toblerone war der Gutmütig-Galgenhumorige, Anders gab den Kultivierten, Caspar den Clown. Und Kristians mühte sich, mit kalkuliertem Wortwitz gegen Monroe anzukommen. Wenn die beiden sich auf der Bühne auf ein feuriges Wortduell einließen, tobte das Publikum vor Begeisterung. So wussten die Entertainer schließlich ihrer Rivalität etwas Nützliches für die Show abzugewinnen, und für eine Weile schien die Kabarettgruppe tatsächlich ihre Krise überwunden zu haben.
An jenem Donnerstagabend stand Maxim gedankenverloren in der Schlange vor dem Saal, an dessen Tür Doris ohne Hektik ihren Riss in die Eintrittskarten machte. Ein dickes Ehepaar vor ihm kramte umständlich nach den Karten und beschuldigte sich gegenseitig, sie daheim liegen gelassen zu haben. Endlich bewegte sich die Schlange schleichend weiter. Maxim zuckte heftig zusammen, als plötzlich jemand die Hand auf seinen Arm legte.
„Dich kenne ich doch!“
Erschrocken starrte er in ein vergnügtes Augenpaar und lachte verblüfft. „Florentine?“ Tatsächlich, es war die hilfsbereite Fremde mit dem auffälligen, selbstgeschneiderten Mantel, die ihm Delas Visitenkarte gegeben hatte.
„Ich habe deinen Namen vergessen“, gab sie freimütig zu.
„Maxim.“
„Natürlich! Wie geht’s dir denn?“
„Großartig. Ich arbeite jetzt im Café der Nacht.“
„Im Ernst?“
„Das verdanke ich alles dir.“
Sie winkte lachend ab. „Ach wo. Gutes Karma!“
„Ich glaube, dafür wirst du ins Nirwana eingehen.“
„Ich fühle es schon, die Erleuchtung ist nahe.“
Sie lachten. Er freute sich aufrichtig, sie wieder zu sehen. Florentine wippte ungeduldig auf und ab, weil es in der Schlange so langsam voranging. „Ich habe die Schizis schon ewig nicht gesehen. Haben sie’s noch drauf?“
„Die werden immer besser.“
„Leander!“, rief sie unvermittelt, und jemand trat zu ihnen. Der ernste, dunkelhaarige junge Mann hatte eine leicht krumme Nase und ein schmales Gesicht. Florentine machte beide bekannt und stellte Leander als guten Freund vor. Maxim begrüßte ihn offen und der andere lächelte scheu. Die drei gingen gemeinsam hinein, fanden gute Plätze und plauderten miteinander, bis die Vorstellung begann. Als Florentine in der Pause „für kleine Kostümbildnerinnen“ musste, fand Maxim sich mit Leander im stimmenschwirrenden Foyer wieder.
„Woher kennt ihr beiden euch?“, fragte er den Musikdramaturgiestudenten.
„Wir sind uns in der Mensa über den Weg gelaufen und ins Gespräch gekommen. Sie brauchte dringend einen Job und ich konnte ihr weiterhelfen.“
„Mit einer Visitenkarte?“
Erstaunt sah Leander ihn an. „Woher weißt du das?“
„Sie wurde an mich weitergegeben.“
Der ernste junge Mann lächelte. „Delas Wege sind unergründlich. Du wirst die Karte wohl irgendwann selber weitergeben.“
„Das hoffe ich doch.“ Maxim hatte sie nach wie vor in seinem Portemonnaie. „Wie lange kennst du Dela schon?“
„Nicht allzu lange und nicht
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