Café der Nacht (German Edition)
betrachtete es schweigend. Während seine Augen darüberhuschten, wechselte der Ausdruck auf seinem Gesicht. Dela wusste, die Ähnlichkeit des abgelichteten Kindes zu ihr war unverkennbar. Dean wirkte schockiert. Sie sah ihn an. „Ich wusste bis vor Kurzem nicht einmal seinen Namen. Aber ja, das ist mein Sohn. Dein Cousin.“
Der Blick, mit dem er sie ansah, war unergründlich.
„Ich musste ihn damals zur Adoption freigeben. Ich war sechzehn und völlig mittellos. Niemand wusste davon. Nicht einmal Lola.“
Er reagierte auf die Nennung Lolas Namens allein mit einem abfälligen Zucken im Mundwinkel. Er gab Dela das Bild zurück. Sie konnte sehen, dass Schwerwiegendes in ihm vor sich ging. Unvermittelt lachte er auf. Er fuhr sich durchs Haar und wandte sich ab. „Scheiße, Mann. Das gibt’s doch nicht.“
„Jetzt sag du mir, was das alles zu bedeuten hat“, verlangte Dela mit Nachdruck. „Woher kennst du Ariel?“
Ohne Vorwarnung, ohne ein Wort, verließ er den Raum. Er hinterließ die Zimmertür weit aufgerissen. Dela hörte ihn in Vidas Zimmer verschwinden. Kurz darauf kam er zurück, trat mit schnellen Schritten in den Raum. Dean warf etwas vor ihr auf den Schreibtisch und lehnte sich gegen die Tür, schloss sie durch sein Gewicht.Dela nahm stirnrunzelnd Vidas Silbermedaillon auf. So oft hatte sie es gesehen, ohne zu wissen, was sich darin befand. Es ließ sich schwer öffnen. Als es endlich aufsprang, verschlug es ihr die Sprache. In dem eleganten Schmuckstück befand sich ein Miniaturportrait. Es war zart, zierlich-schön und anmutig. Trotz seiner leichten, künstlerischen Abstraktion hatte sie sofort ihren erwachsenen Sohn erkannt. Ein Portrait von Ariel. Ein Selbstportrait von Ariel befand sich in Vidas Medaillon. Gedanken flatterten.
„Wo hast du das her?“, hauchte sie endlich.
„Er hat es mir gegeben. Er hat es Vida gegeben.“
Dela schlug die Hand vor den Mund. „Du hast ihn persönlich getroffen?“
„Scheiße, ja.“ Er grinste. Plötzlich wurden seine Augen weich. „Dela ...“
Sie sah ihn an, begriff schlagartig. Es war nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen. „Du liebe Güte ...“
Sie sank im Stuhl zurück. Mit einem Mal war ihr klar, weshalb Dean mit solcher Heftigkeit reagiert hatte. Als hätte er es schon in der Sekunde geahnt, als er unten den Namen Ariel Van Draven vernommen hatte. Das Bild im Medaillon. In Vidas Medaillon. Das Bild, das eine eindeutige Geschichte erzählte. Es war ein Pfand, das man nicht irgendeinem Fremden gab. Es war ein Liebespfand. Und Ariel hatte es Vida gegeben. „Ach du liebe Zeit.“
Dela hatte nie an Schicksal geglaubt. Doch wie sollte sie fassen, was gerade geschah? Manchmal hatte sie sich schon gefragt, ob über ihrer Familie ein Fluch lag. Ein Zauber, der verhindern wollte, dass alle Morgans ihr Glück fanden. Sie musste an ihre große Schwester denken. Wilde, verrückte, unbezähmbare Lola. Lola, die als Erste weggelaufen war und Dela zurückgelassen hatte beim Vater, bei den Schlägen, bei seinem Suff. Versprechend, flüsternd, sie würde sie eines Tages nachholen. Doch Lola war nie zurückgekommen. Ihre bildschöne, große Schwester, die keine Furcht vor dem Risiko kannte, die das Wagnis brauchte, um sich lebendig zu fühlen. Lola hätte alles versucht, um das Glück für sich einzufangen. Geholfen hatte es ihr nichts. Lola, unwiderstehliche, leichtsinnige Lola. Manchmal war Dean ihr so ähnlich, dass es Dela Angst machte. Ihr Neffe war das einzige Familienmitglied, das ihr im Sturm der Zeit noch geblieben war.
„Vielleicht haben wir uns getäuscht“, meinte sie leise. „Vielleicht gibt es doch so etwas wie Schicksal.“
Dean sah sie ernst an. „Du darfst es Ariel nie sagen, hörst du? Du darfst ihm nie sagen, wer ich bin.“
Erst allmählich sickerten die sich überschlagenden Geschehnisse bei ihr ein. Dela erhob sich und winkte ihren Neffen zu sich. Er ließ bereitwillig zu, dass sie ihn umarmte, ihn an sich zog. Er seufzte, kaum hörbar.
„Findest du nicht, er hätte ein Recht darauf? Es ist ja nicht schlimm, dass ihr miteinander verwandt seid, egal, was zwischen euch war. Ihr seid keine Brüder, ihr seid Cousins. Es kommt oft vor, dass ...“
„Ich meine es ernst“, raunte er, sein Atem warm an ihrem Haar. „Für mich spielt das keine Rolle. Aber für ihn würde es eine spielen. Sag es ihm nicht.“
Dela nickte, und hörte ihn doch kaum. Sie musste lachen, leise, so erleichtert. Sie drückte Dean ganz fest an
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