Café der Nacht (German Edition)
gegenüberstanden. Es begannen bereits neue Künstlergruppen einzuwandern, allein, um gesehen zu werden, sich zu präsentieren. Alle schienen zu hoffen, dass der Erfolg der ansässigen Stars hier an seiner Quelle weitere Kreise schlagen würde.
„Vielleicht sollte es für Kunstwerke eine Charakterprüfung des Käufers geben. Wie wenn man sich ein Viech aus dem Tierheim holt. ‚Nur in liebevolle Hände abzugeben‘ oder so“, meinte Marilla einmal scherzhaft, als sie nachmittags in einer kleinen Stammgastrunde beisammensaßen. Monroe sprach nachts, wenn man unter sich war, vom „Sphinxcharakter der Kunst“. Sie besäße immer ein letztes Rätsel, das ihr allein gehörte. Kunst korrespondiere nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. In einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern Konformität abverlangte, die für alles genau definierte Regeln und Vorschriften kannte, sei dieser Freiraum überlebenswichtig. Maxim war es in solchen Momenten vollkommen egal, was Monroe sagte. Er liebte es einfach, ihm zuzuhören, dem Klang seiner Stimme, ihn anzusehen, und jeden kurzen Blickkontakt als elektrisierend zu empfinden. Doch obwohl Maxim und Rufus bislang unverändert genau das taten, was sie immer schon getan hatten, nämlich sich aus allem wohlweislich herauszuhalten, spürte er, dass das nicht mehr lange möglich sein würde. Das Café der Nacht begann sich langsam aber sicher in zwei Lager aufzuspalten. Irgendwann würde Maxim nicht mehr umhin können, Flagge zu zeigen. Die heftigen Diskussionen, die von jeher im Kaffeehaus geführt worden waren, drehten sich mehr und mehr um die Frage, wo die Kunst aufhörte und der Kommerz begann.
* * *
Der erste, voreilige Schnee bestand aus winzigen Flöckchen, die beim Kontakt mit dem feuchten Kopfsteinpflaster augenblicklich schmolzen. Rufus wusste, nichts davon würde bleiben, doch Nona trat ans Fenster ihres gemütlichen Pensionszimmers und staunte hinaus in die Dunkelheit des Spätnachmittages. Sie öffnete beide Flügel, und kühle Luft wirbelte in den beheizten Raum. Flocken wehten herein und setzten sich in ihr schimmerndes Haar. Sie sah aus, wie ein Engel. Ein Hauch von Unschuld in ihrem Ausdruck, still bewundernd, was zart vom Himmel fiel. Rufus’ verräterisches Herz begann, schneller zu pochen. Im Raum duftete es nach dem Zimt-Orangen-Öl der Duftlampe und nach ihr.
„Weißt du noch, als wir Lametta in die Kastanie geworfen haben?“ Sie lachte.
Er grunzte belustigt. „Was heißt hier, wir?“
„Ich schwöre, das lag nur an Merlyns Höllenpunsch!“ Sie lachte erinnerungsversunken und zeigte dabei ihre bezaubernden Grübchen. „Dieses Flitterzeug kam ewig nicht mehr runter.“
„Bisschen was hängt immer noch drin.“ Bevor Rufus sich aufraffen und zu ihr treten konnte, schloss sie das Fenster wieder und kam zurück zu ihm, ließ sich neben ihm auf der engen Couch nieder. Ihre Wangen strahlten frisch. Rosige, weiche Lippen. Er sehnte sich danach. Nona liebte die Vorweihnachtszeit und zelebrierte jeden romantischen Augenblick. Rufus dagegen hatte wenig Bezug dazu. In seinem streng katholischen Elternhaus hatte man im Advent viel in der Bibel gelesen und Kerzen angezündet. Geschichten vom Erlöser, von göttlicher Gnade. Doch als er mit sechzehn an falsche Freunde geraten war, hatten seine Erzeuger ihm wenig christliche Nachsicht und Vergebung entgegengebracht. Mutwillige Zerstörung fremden Eigentums, Marihuanabesitz, Mopedunfall, Kokainmissbrauch, Körperverletzung, Diebstahl. Ganz offensichtlich erwartete ihn das Fegefeuer. Zwei Mal hatten sie ihn in die Jugendpsychiatrie einweisen lassen. Als den verlorenen Sohn auch das nicht zu läutern vermocht hatte, hatten sie ihn kapitulierend zur Großmutter abgeschoben. Erst viele Jahre später hatte Rufus der strengen alten Dame dafür dankbar sein können, dass sie zu ihm gehalten, ihn nie aufgegeben hatte, während es mit ihm kontinuierlich höllenwärts gegangen war. Es ist leicht, sich von den Menschen zurückzuziehen, und schwer, sich zu öffnen.
„Weißt du, wonach ich mich sehne?“, fragte Nona unvermittelt in die einvernehmliche Stille hinein.
Rufus sah auf und lächelte leicht. „Wonach?“
„Nach einem Mann, bei dem ich mich anlehnen kann. Ich weiß, das ist furchtbar altmodisch und ich bin eine Schande für den Feminismus. Aber das ist es, was ich immer wollte. Mich sicher fühlen. Geborgenheit.“
Rufus empfand einen entmutigenden Stich. Warum nur konnte oder wollte sie ihn nicht
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