Cagot
Er und Amy ebenfalls. Und Miguel war ihnen gefolgt.
Schlagartig befiel David wieder heftige Panik. Konnten sie sich denn nirgendwo mehr sicher fühlen? Die Berge am Horizont schimmerten in violettem Schwarz. Luftspiegelungen tauchten vor ihnen auf und verschwanden wieder - vermeintliche Wasserflächen, die in der herrischen Sonne glitzerten. Die Hitze hatte bereits beängstigende Ausmaße angenommen. Alle im Auto tranken reichlich Wasser.
Die Berge erinnerten David an die Pyrenäen. Die Pyrenäen erinnerten ihn an die Landkarte, die, alt und verblichen, in seiner Tasche steckte. David fasste in seine staubige Jacke und zog sie heraus. Amy saß dösend neben ihm.
Er faltete das weiche Papier auseinander. Inzwischen gab es für jedes Sternchen auf der Karte eine Erklärung, sogar für das in der Nähe von Lyon. Aber da waren noch diese winzigen handschriftlichen Eintragungen auf der Rückseite. Er drehte die Karte um und studierte sie aufmerksam. Die Schrift war so stark verblichen, so schwer leserlich, so klein. Und es war nicht die Handschrift seines Vaters. David hielt sie ganz dicht an seine Augen. War das ein deutsches Wort? Irgendetwas mit Straße? War das möglich?
Durchaus. Oder war es der deutsche Einfluss, der sich in Namibia überall bemerkbar machte, der seine Gedanken in diese Richtung lenkte.
Behutsam und nachdenklich faltete David die Karte mitsamt ihrem letzten Hinweis wieder zusammen. Und dann küsste er Amys reizende nackte, schlafende Schulter und hoffte, sie würde nicht von Miguel träumen.
Nach einer Weile drehte sich Petersen, eine Hand am Lenkrad, zu ihm um und sah ihn nickend an.
»Total ausgestorben, nicht?«
»Ja, schon.«
»Namibia war zwar schon immer sehr dünn besiedelt, aber so extrem ist es erst seit Anfang des letzten Jahrhunderts. Und wissen Sie, warum?«
»Nein.«
»Daran sind meine Leute schuld. Sie haben praktisch die ganze einheimische Bevölkerung ausgerottet.« Seine Miene wurde ernst. »Die Deutschen. Haben Sie mal was vom Völkermord an den Herero gehört?«
Das musste David verneinen.
Amy neben ihm begann sich zu regen. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und hörte Petersen zu.
»Eine unglaubliche Geschichte.« Petersen blickte Sammy von der Seite an. Der junge Schwarze blieb stumm. Der Deutsche richtete den Blick wieder auf die holprige Piste und nahm einen Schluck Wasser aus einer kleinen Flasche, bevor er begann.
»1904 lehnten sich die Herero gegen die Deutschen auf und massakrierten ein paar Dutzend Siedler. Auch mein Ururgroßonkel wäre den Unruhen damals beinahe zum Opfer gefallen.« Petersen deutete unvermutet aus dem Fenster. »Strauße!«
Amy und David reckten die Hälse. Drei oder vier große, unansehnliche Vögel rannten vor ihnen die Straße entlang. Mit ihren aufgeplusterten schwarz-weißen Hinterteilen sahen sie aus wie prüde alte Jungfern aus viktorianischen Zeiten, die vor einem Lüstling flohen. Der Anblick hatte eindeutig etwas Komisches. Aber Petersen lachte nicht.
»Wo war ich? Ach ja. Die Deutschen betrachteten diesen Aufstand als eine ernsthafte Bedrohung ihrer mit reichen Diamantenvorkommen gesegneten Kolonie, weshalb sie einen preußischen Imperialisten allererster Güte, Lothar von Trotha, nach Deutsch-Südwestafrika entsandten, um den Aufstand niederzuschlagen.« Petersen nahm wieder einen Schluck Wasser. »Der Kaiser gab von Trotha bei seiner Abreise den guten Rat mit auf den Weg, er solle sich bei seinem Vorgehen gegen die Herero >die Hunnen zum Vorbild nehmen<. Und von Trotha versprach, mit >brutaler Gewalt< durchzugreifen. Wie gesagt, nettes Völkchen, die deutschen Kolonialisten.«
Petersen lenkte den Wagen an ein paar tiefen Schlaglöchern vorbei. »Und so kam es dann auch. Der reizende Herr von Trotha griff gnadenlos durch. Nach mehreren Schlachten, in denen die Herero schwere Verluste erlitten, beschloss er, Nägel mit Köpfen zu machen. 1907 erteilte er seinen berüchtigten Vernichtungsbefehl, der darauf abzielte, die Herero als Ganzes auszulöschen. Bis auf den letzten Mann. Ein ganzes Volk.«
»Nicht zu fassen«, hauchte Amy.
»Ja«, nickte Petersen. »Daraufhin wurden die Herero nach Westen in die Kalahari-Wüste getrieben, damit sie dort verhungerten oder verdursteten. An den Wasserlöchern wurden Posten aufgestellt, damit die Flüchtlinge dort nicht trinken konnten; Brunnen wurden gezielt vergiftet. Und das, wohlgemerkt, in der Wüste, in der glühend heißen Omahake-Wüste. Die Herero hatten keine Nahrung und
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