Cagot
Himmel. Er sah aus wie ein schmerzverzerrtes weißes Gesicht, das Gesicht eines Gefolterten.
Eine Weile lagen sie in dem nur vom Mond erhellten Schlafzimmer still nebeneinander. Dann schliefen sie ein.
Und David träumte.
Er aß Fleisch, kaute an einer Stange zähem Biltong; das getrocknete Fleisch war knorpelig und knochig. Er war im Zimmer seines Großvaters, die Wüste draußen war blendend hell. Dann hob sein Großvater im Bett die Hand und deutete aus dem Fenster. Den Mund voll Biltong, schaute David in die Richtung, in die der alte Mann zeigte, und sah ein nacktes Mädchen, das in der Wüste stand. Und dann sah er es: Sie hatte keine Hände. Und der Grund, warum sie keine Hände hatte, war, dass David ihre Hände aß. Er merkte, dass er die Hände des Mädchens aß.
David fuhr so heftig zusammen, dass er aufwachte; es war Nacht, und er schaute durch das quadratische Fenster auf den immer noch stumm brüllenden Wüstenmond, während Amy neben ihm dezent schnarchte.
Endlich bekam er den Gedanken zu fassen. Plötzlich sah er ganz klar vor sich, warum er an seinen Großvater gedacht hatte, an die Scham und die Schuldgefühle seines Großvaters. An sein Unvermögen, darüber zu sprechen, an seine schreckliche Heimlichtuerei.
Er war jetzt im Sperrgebiet seines Geistes, er war in die verbotene Zone eingedrungen.
Sein Großvater war Cagot gewesen. Es war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab; das erklärte alles. Großvater ein Cagot. Ein Unberührbarer. Ein Paria. Ein Kannibale aus der Gascogne. Die Cagots waren tatsächlich Kannibalen. Und David stammte von einem Cagot ab: Er war selbst einer.
Amy drehte sich schnarchend auf die andere Seite; ihre nackte junge Schulter schimmerte matt im Mondschein. Zart wie ein saftiger Pfirsich.
40
Simon stand am Flugsteig A des Lyoner Flughafens Saint Exupery neben einer Gruppe verbannter Raucher an einer Telefonzelle. Über den Terminals ging eine wässrige Oktobersonne auf. Die ersten Flugzeuge stiegen dröhnend in den grauen Morgenhimmel.
Simon wog die glänzenden Euromünzen in seiner Hand. Er hatte in der Nacht immer wieder Suzie anzurufen versucht, aber sie war nicht ans Telefon gegangen. Waren sie und Conor in Sicherheit? Wo war Tim? Sein Herz gestand seine Schuld - quittiert von einem schmerzhaften Stich. Zwar hatte er von dem Mönch in La Tourette einiges erfahren, aber war es das wert gewesen? Und wenn ihnen nun etwas zugestoßen war? Wo steckte Suzie? Möglicherweise war sie auch nur arbeiten gegangen. Aber um diese Zeit? Und Conor? Was war mit Conor? Wo war seine Schwiegermutter? Und wo war Tim?
Die Fragen marterten seine Seele.
Es gab niemanden mehr, den er anrufen konnte. Auch bei seinen Eltern hatte er es bereits versucht, vergeblich …
Ihm blieb keine andere Wahl. Er musste mit der Polizei telefonieren. Simon blickte auf die Münzen in seiner Hand hinab. Eins, zwei, drei…?
An den Münzen fummelnd, fütterte er den Apparat. Nach einigem Läuten ging jemand dran. »DCI Sanderson.«
Simon zögerte - holte tief Luft. Und dann brachen die Fragen aus ihm hervor. Tim. Conor. Suzie. Conor. Tim. Der Inspektor fiel ihm ins Wort.
»Immer mit der Ruhe, Quinn, keine Hektik. Ich bin ja da. Nur keine Aufregung. Rufen Sie von einem Münzapparat an?«
»Ja.«
»Von wo?«
Zweifel schlichen sich in Simons Gedanken.
»Irgendwo in Frankreich. Mein neues Handy habe ich weggeworfen. War mir zu riskant. Ich weiß nicht mehr … wem ich noch trauen kann … aber sagen Sie schon endlich: Was ist los?«
Sehr behutsam antwortete Sanderson: »Es geht ihnen gut. Ihrer Frau und Ihrem Sohn … geht es gut. Aber … es hat sich … einiges getan. Gestern Nacht. Ich bin gerade auf dem Weg in das Büro meines Chefs. Ich rufe Sie gleich zurück, ja? Geben Sie mir nur schnell Ihre Nummer.«
»Es hat sich einiges getan? Ist mit Conor auch wirklich alles okay? Haben sie Tim gefunden?«
»Conor geht es bestens. Suzie ebenfalls. Sie sind in Sicherheit. Geben Sie mir Ihre Nummer.«
Simon schluckte seine Ängste hinunter, sie hatten den grässlichen Geschmack von Galle - so als hätte er sich vor kurzem übergeben. Um den Lärm der Flugzeuge auszublenden, steckte er einen Finger in das freie Ohr und gab Sanderson die Nummer durch.
»Warten Sie dort«, sagte der DCI. »Ich werde gleich mit dem CS sprechen. Warten Sie dort und … vertrauen Sie mir, ja?«
Simon nickte und hängte auf. Er starrte auf das stumpfe Metall des Münzapparats.
»Bonjour…«
Er wirbelte
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