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Cagot

Cagot

Titel: Cagot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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und Obst und Käse. Kein Fleisch. Sie redeten über die Pinguine und die Robben auf den Inseln vor der Küste. Eloise erzählte von einer Sandrose, die sie am Tag zuvor am Strand gefunden hatte, eine wunderschöne Sandrose. »Und Achate gibt es auch!«
    Ihr Teenagerenthusiasmus hatte etwas Rührendes, aber David war nicht in der Lage, darauf einzusteigen. Dazu war er jetzt einfach nicht in der Stimmung. Ihm war nicht nach Small Talk. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf und entschuldigte sich - er wollte allein sein. Amy sah ihn fragend an, und er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Er sagte auch nichts. Er wollte nicht reden.
    Er ging über die Terrasse und stieg die Betonstufen zum Strand hinab. Weit draußen auf dem Meer, hinter den Inseln, war ein großes Schiff zu sehen. Der graue Sand glänzte in der heißen Sonne. Die Küste hatte etwas von einer Mondlandschaft. Die Küste des Sperrgebiets. Die letzte Zuflucht der Cagots.
    »Na?«
    David wirbelte erschrocken herum. Angus war ihm gefolgt.
    »Alles okay, David?«
    Eine kurze, bedrückte Pause.
    »Na ja, es geht so.«
    Das Lächeln des Schotten war traurig, und skeptisch. Er sagte nichts. Dann ertrug es David nicht mehr länger. Er musste es loswerden; er musste mit jemandem darüber sprechen.
    »Angus … hältst du es für möglich …« - David presste die Wörter gewaltsam aus sich heraus -, »… dass ich Cagot bin? Oder zumindest von Cagots abstamme? Ich habe noch mal über meinen Großvater nachgedacht. Über seine Schuldgefühle und seine Scham. Die einzige einleuchtende Erklärung dafür ist doch … dass auch er Cagot war. Vielleicht hat er es, genau wie Jose Garovillo, in Gurs erfahren.«
    Angus’ blasses Gesicht war im grellen Licht der Sperrgebietssonne noch bleicher als sonst, als er den Kopf auf die Seite legte.
    »Ich frage mich schon eine ganze Weile, wann du diesen Schluss ziehen würdest.«
    »Und? Was glaubst du?«
    »Meiner Meinung nach weist du keins der vordergründigen Cagot-Syndrome auf, aber du hast, vielleicht, eine gewisse Veranlagung.«
    »Genau so etwas habe ich befürchtet. O Gott.«
    »Das heißt nicht, dass du verrückt wirst. Jedenfalls nicht mit Sicherheit. Möglicherweise wirst du, wie Eloise, nie Probleme damit kriegen. Aber auszuschließen ist es nicht.«
    »Tolle Aussichten.«
    »Die einzige Möglichkeit, dir diesbezüglich Gewissheit zu verschaffen, ist ein Gentest. Wenn du das möchtest. Wenn du möchtest, kann ich ihn gleich hier machen, im Labor. Willst du es wirklich wissen?«
    Die Wahrheit war ganz nah und doch unerträglich. Wie ein HIV-Test, nur unendlich viel schlimmer. David starrte aufs Meer hinaus. Inzwischen war dort auch noch ein Boot zu sehen, das näher war als das große Schiff. Vielleicht ein Fischerboot.
    David atmete aus.
    »Ich weiß nicht, Angus. Das ist… eine verdammt schwere Entscheidung. Wenn ich ehrlich bin, habe ich ganz schön Schiss davor. Ich will nicht herausfinden, dass ich … wie Miguel bin. Wie könnte ich mit diesem Wissen leben?«
    »Klar, kann ich gut verstehen.«
    Die zwei Männer gingen, Steine kickend, weiter den Strand entlang. Angus war sehr nachdenklich und schnitt die unterschiedlichsten Themen an: den Samen der Schlange, die biblischen Hinweise auf die Existenz verschiedener menschlicher Rassen. Schließlich blieb der Genforscher stehen und blickte auf das giftig blaue Meer und die dem Strand vorgelagerten Inseln hinaus; und er kam auf frühere Hominidenformen zu sprechen, auf Homo antecessor, Homo habilis und Homo floresiensis, einen nur etwa einen Meter großen Verwandten des Menschen.
    »Homo floresiensis könnte bis in geschichtliche Zeiten hinein existiert haben.« Angus’ Blick blieb auf den kleinen Felseninseln haften. »Stell dir mal vor: eine Art Kobold, der in den Dschungeln des indonesischen Archipels unbemerkt bis in die heutige Zeit überlebt hat, ein Elf, ein Zwerg …«
    David sinnierte still vor sich hin und hörte nur mit halbem Ohr zu.
    Angus deutete aufs Meer hinaus. »Da! Quallen!«
    Nur wenige Meter vom Strand entfernt war das Wasser voller durchscheinender roter Quallen mit träge pulsierenden Tentakeln, die bis zu einem Meter Durchmesser hatten.
    Sie waren schön und abstoßend zugleich.
    »Chrysaora hysoscella, Namibische Nesselquallen«, erklärte Angus. »Früher haben sie mich immer an eine Vagina erinnert. Die Farbe und ihre Bewegungen. Die Peristaltik des weiblichen Orgasmus. Aber jetzt erinnern sie mich an schwimmende … Wunden.

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