Cagot
Garotte wurde fester zugedreht. Tims Gesicht wurde rosa, dann rot, dann fast blau.
Der zweite Mann stand vollkommen teilnahmslos hinter ihm und hielt wortlos die Garotte. Und dann ließ er die Garotte los, und Tim schnappte panisch nach Luft. Er war noch am Leben. Tim war noch am Leben.
Der erste Mann beugte sich zur Kamera vor.
»Nächstes Mal bringen wir ihn um.«
Der Bildschirm wurde schwarz.
Simon starrte weiter darauf. Schließlich schob er den Stuhl zurück und wandte sich zum Gehen - egal wohin, nur irgendwo anders hin; er warf dem verdutzten Mädchen an der Kasse ein paar Euro hin und ging auf die Straße hinaus. Er musste an die frische Luft, um nicht unkontrolliert loszubrüllen. Tim…
Ein Polizeiauto glitt langsam die Straße entlang. In Richtung Gasthof Fraundorfer. In Richtung von Simons Unterkunft.
Simon beobachtete das Polizeiauto. Dann fiel ihm ein, was ihm David in seiner letzten Mail geschrieben hatte, und er drehte sich um und begann, in die andere Richtung loszulaufen.
44
Vor ihnen lag Lüderitz: strenge lutherische Kirchen und unbefestigte Straßen, gesäumt von pittoresken Schwarzwaldhäusern und schäbigen Minenarbeiterhütten. Die in das kalte, abweisende Blau des Meers hinausragenden Piers waren mit Stacheldraht gesichert.
Angus ging voraus. Nach wenigen hundert Metern bog er in eine verlassene Seitenstraße und blieb stehen. »Hier ist es.«
Das Haus, auf das Angus deutete, war eins der buntesten, das sie bisher gesehen hatten; es war in leuchtendem Baltic Red gestrichen. In der menschenleeren Straße parkten mehrere große weiße Geländewagen. Heißes Metall, das in der sengenden Sonne blitzte.
Angus stieg die Eingangstreppe hinauf und klopfte. Die andere Hand hatte er in der Innentasche seiner Jacke. David wusste, warum. Angus klopfte noch einmal, lauter und fester.
Nichts.
Dann ein Geräusch. Ein Riegel wurde zurückgezogen, die Tür ging einen Spalt auf, und ein uralter Mann spähte nach draußen. Im selben Moment riss Angus Kellermans Pistole aus der Tasche, drückte die Tür auf und stieß den alten Mann in die Diele zurück.
Der Lauf der Pistole war auf die orangefarbene Strickjacke des alten Manns gerichtet. Amy und David tauschten ängstliche Blicke.
Angus schien keine Ängste oder Zweifel zu haben. Er fuhr den alten Mann an:
»So, Dresler, jetzt hören Sie mal gut zu. Alle sind tot. Und ich will wissen, wo Fischers Forschungsunterlagen versteckt sind. Los. Raus mit der Sprache.«
Der alte Nazi sank in die Knie, aber Angus drückte ihn mit dem Rücken gegen die Wand und hielt ihn unnachsichtig fest. Dresler starrte auf die Pistole, dann auf Angus und auf David. Als er David sah, blinzelte er erschrocken - so als fände er David beängstigender als die Pistole.
»Los, Dresler. Raus mit der Sprache. Ich warte nicht ewig.«
Dresler stammelte etwas Unverständliches.
»Los jetzt!« Angus’ Ton wurde bedrohlicher.
»Das weiß ich nicht, ich …«, stotterte Dresler auf Deutsch.
»Machen Sie uns doch nichts vor. Sie können sehr wohl Englisch, Sie mieses altes Nazi-Schwein …«
Der alte Mann sabberte. Er hatte solche Angst, dass ihm der Speichel aus den Mundwinkeln lief.
Es war schrecklich, unerträglich. Aber Angus schrie weiter auf den alten Nazi ein. David, der es nicht mehr mit ansehen konnte, wandte sich ab und blickte sich um. Dreslers Haus war die reinste Kitschpostkartenidylle. Nicht einmal die Kuckucksuhr an der Wand fehlte. In einer Ecke waren mehrere alte Gehstöcke mit gelben Horngriffen.
Und ein Porträt von Papst PiusX.
Vielleicht war es doch richtig, diesem alten Nazi ein Geständnis abzupressen.
Dreslers faltiger alter Mund ging stumm auf und zu. Angus beugte sich weiter zu ihm vor und drückte ihm die Pistole noch fester auf die Brust.
»Wo sind Fischers Forschungsunterlagen? Ich frage ein letztes Mal. Beim nächsten Mal drücke ich ab.«
Der alte Mann unternahm einen schwachen Versuch, Angus von sich zu stoßen, und dieser machte tatsächlich einen Schritt zurück. Dabei richtete er die Pistole auf Dreslers Kopf - und schoss so knapp an ihm vorbei in die Wand, dass die Kugel fast das Gesicht des alten Nazis streifte.
Amy stockte der Atem. David wandte den Blick ab. Und in diesem Moment stach ihm etwas ins Auge: ein kleines Adressbuch, das aufgeschlagen neben dem Telefon auf einem Beistelltischchen lag. Die handschriftlichen Eintragungen brachten etwas bei David ins Schwingen. Enthielt dieses Büchlein die Antwort auf ihre
Weitere Kostenlose Bücher