Cagot
Licht des Flurs und dachten über ihre Möglichkeiten nach. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten Eloise finden und hierher zurückbringen. Amy erklärte sich bereit, im Dorf nach ihr zu suchen; David bestand darauf, es selbst zu tun.
Er lief den alten Weg zur Brücke hinauf, an den eingestürzten Häusern und Scheunen der Cagoterie entlang und rief dabei immer wieder Eloises Namen. Hatte sie sich in einer dieser Ruinen versteckt? Wohl kaum, nichts bewegte sich hinter den schwarzen Löchern ihrer leeren Fenster. Die ramponierten Türen der Cagoterie waren fünfzig Jahre nicht mehr geöffnet worden. Rostige Sicheln lagen unbenutzt im Gras. An die Wand eines größeren Hauses war ein Gänsefuß gesprüht. Und daneben ein gackerndes Teenager-GrafTito: Fous le camp Cagots!
David ging über die Brücke. Inzwischen regnete es in Strömen, aber er ließ sich nicht beirren. Er erreichte den Friedhof. An der Mauer lag eine grinsende Stoffpuppe, aus deren aufgeplatztem Gesicht die gelbliche Strohfüllung quoll. Er öffnete das Tor, ging den Pflasterweg zum Eingang hinauf und betrat die Kirche.
Obwohl nicht Sonntag war, fand dort zu seiner Überraschung ein Gottesdienst statt.
Die versammelte Gemeinde war winzig: ein halbes Dutzend alter Leute und ein greisenhafter Priester. Und vier mannsgroße Stoffpuppen. Es war eine Art Erntedankgottesdienst. Vor dem Altar war eine klägliche Opfergabe aus Tomaten, Maiskolben und Del-Monte-Ananasdosen aufgebaut. David brauchte zwei Sekunden, um festzustellen, dass sich Eloise nicht unter den Gläubigen befand. Der Geistliche starrte David finster an, aber dieser ignorierte den feindseligen Blick.
Er verließ die Kirche und lief durch den prasselnden Regen zu dem einzigen Ort, den Eloise aufgesucht haben könnte, um dort vielleicht an einen Internetzugang zu kommen: zu dem kleinen Tabakladen, in dem es ein, zwei Computer gab.
Der Laden war geschlossen; nicht einmal eine Puppe saß im Fenster. Eloise war verschwunden, spurlos verschwunden. In David stieg eine Mischung aus Wut, Besorgnis und tiefem Mitgefühl auf. Eloises Schmerz, der tiefe Schmerz der frisch Verwaisten, erinnerte ihn nur zu deutlich an seine eigene Trauer, seine eigene Verlassenheit. Sie war wie er. Sie machte das Gleiche durch, was er erlitten hatte. Er hatte ihre stummen, stolzen, trotzigen Tränen vor Augen, als sie im Auto vor Miguel geflohen waren.
Eloise war ein tapferes junges Mädchen. Sie hatte Besseres verdient. Er musste sie finden, bevor Miguel sie fand. Aber er wusste nicht, wo er beginnen sollte. Wo konnte sie sein? Und warum? Was ging hier vor sich?
Die Fragen prasselten wie der Regen auf ihn herab. Er ertrank in Rätseln und Geheimnissen. Ihm blieb nur noch eine Rettung. Jose.
David rannte durch den strömenden Regen, am Kriegerdenkmal vorbei, zur Brücke und zum Fluss hinunter und hinüber zu den Ruinen der Cagoterie. Mittlerweile war er total durchnässt, doch er nahm keine Notiz davon. Eine unbändige Wut hatte alle anderen Emotionen verdrängt. Der aufflackernde Gedanke, Miguel könnte Eloise in seine Gewalt gebracht haben, war zu scheußlich. Einfach undenkbar.
Er fand Amy in der Diele des Cagot-Hauses. Ihr blondes Haar schimmerte in dem dämmrigen Licht. Auch sie war der Meinung, dass sie Jose zur Rede stellen sollten. Aber das würde David übernehmen müssen, weil dieses Gespräch brutal werden konnte und Amy den Garovillos zu nahe stand.
Sich innerlich für die bevorstehende Konfrontation wappnend, stapfte David den Gang hinunter. Er würde die Wahrheit aus Jose herausbekommen. Egal wie.
22
Als David den alten Mann nach einigem Suchen endlich in einem der zahlreichen Zimmer des alten Hauses fand, war der Regen zu einem mächtigen Wolkenbruch angeschwollen, der mit unnachsichtiger Wucht auf die alten Schieferplatten des Cagot-Hauses herabprasselte.
Jose Garovillo war allein in der Küche; er stand über den Herd gebeugt und goss Olivenöl in eine große Pfanne. Seine Frau hatte sich anscheinend in ihrem Zimmer eingeschlossen. Jose schien in sich selbst eingeschlossen, wie schon die ganze Zeit.
»Angulas.« Jose deutete auf eine Untertasse voll schleimiger weißer Würmer.
Verständnislos starrte David auf den kleinen Teller. Sein Hemd klebte kalt und nass an seinem Rücken. »An…gulas?«
»Junge Aale. Aber natürlich tiefgefroren. Fermina war in Campan - einkaufen.«
»Sie hat das Haus verlassen?«
»Keine Angst. Sie hat schon aufgepasst.« Jose wandte sich vom Herd ab und sah
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