Calhoun Chronicles 03 - Die Schoene Tochter Des Senators
und in den Augen seines Vaters erkannte er die Wirkung des morgendlichen Schlucks Whiskey.
Jamie atmete tief durch, um sich zu wappnen. Das Wochenende schien ihm plötzlich endlos lang zu sein.
„Jamie war für uns stets eine wahre Prüfung“, erklärte Tabitha Calhoun allen Anwesenden, doch ihr reizendes Lächeln schwächte die Aussage ein wenig ab. So merkte niemand, dass der Kommentar eine schwere Missbilligung war. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche angenehme Überraschung es für uns ist, ihn jetzt in so ausgezeichneter Gesellschaft zu wissen, nun, da er in Washington ist.“
Gemessenen Schrittes, der dem einer Brautjungfer glich, führte sie die Gäste in den Salon und bat sie, sich zu setzen. Jamies Vater klopfte ihm auf die Schulter. „Habe ich dir nicht gleich gesagt, dass eine Legislaturperiode im Kongress genau das Richtige wäre?“ Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu: „Ich konnte es ja nicht mehr mit ansehen, wie du dich wegen Noah zu Tode grämtest.“
„Was du nicht sagst“, murmelte Jamie zähneknirschend. Er hatte Schlimmeres erwartet. Doch als er einen Blick zu Abigail warf und sah, wie sie ihn beobachtete, fragte er sich, ob es ein Fehler war, dass er sie hierher gebracht hatte. Anders als alle anderen schien sie ihn und sein heftiges Bestreben zu verstehen, ein Teil dieses Platzes zu sein, an dem man ihn nie hatte haben wollen. Es war schon beunruhigend, dass es jetzt eine Person in seinem Leben gab, die ihn so klar durchschaute. Jamie wusste nicht recht, ob ihm das behagte.
Bei einem fürstlichen Abendessen unterhielten Charles und Tabitha Calhoun die Cabots mit köstlichen Anekdoten über ihr Haus, ihre Pferde und die Nachbarn. Jamie hätte den Charme seiner Eltern nie anzweifeln sollen, der umso mehr hervortrat, wenn für sie Anlass bestand, Eindruck zu machen und, im Fall seines Vaters, je öfter er einen Schluck aus der Silberflasche nehmen konnte, die sich stets in seiner Reichweite befand.
Jamie betrachtete seine Eltern wie nicht besonders interessante Fremde. In jüngeren Tagen besaß Charles den Ruf, leichtfertig und wenig ehrgeizig zu sein. Vor ungefähr dreißig Jahren hatte er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau, und als diese starb, verlor er den Boden unter den Füßen, bis sein Vetter Hunter, der damals der Herr von Albion war, ihn mit einem neuen Unternehmen beschäftigte, über das der ganze Landkreis tuschelte.
Während auf den meisten Plantagen Tabak, Baumwolle, Indigo oder Reis angebaut wurden, züchtete Albion Rennpferde irischer Abstammung. Das Unternehmen war ein großes Risiko, warf je- doch schließlich enorme Profite ab. Und Charles Calhoun brachte es die hübscheste, betuchteste Debütantin der ganzen Region ein.
Einzig Tabitha Parks Schwester kam ihr in Reichtum und Schönheit gleich. Tabby und Prissy, wie die beiden genannt wurden, erschienen Jamie immer wie Frauen, die nicht ganz in die gegenwärtige Welt passten. Seine Tante und seine Mutter waren dazu geboren und erzogen worden, Plantagenherrinnen zu sein, doch der „Krieg zwischen den Staaten“, der amerikanische Bürgerkrieg, änderte ihr Leben unwiderruflich. Sie bemühten sich zwar sehr, die neue Ordnung der Dinge zu akzeptieren, doch Jamie hegte den Verdacht, dass sie sich nie ganz damit abfinden konnten, Dienstangestellte und Arbeiter zu haben, die kommen und gehen durften, wie sie wollten.
Da Albion als erstrangige Zuchtfarm an der Ostküste galt, hätte eigentlich jeder glücklich sein sollen, und so war es auch eine Zeit lang, bis Jamie alt genug war, um zu merken, dass sein Vater und seine Mutter nicht mehr auf das wahre Glück hofften.
Jamie wusste, dass seine Eltern ihn auf zurückhaltende Weise liebten, ihn jedoch auch mit gewisser Neutralität ansahen, als betrachteten sie eines ihrer Preispferde. In allen Einzelheiten diskutierten sie seine Stärken und seine Grenzen. Ihre Anforderungen an ihn waren enorm. Er erinnerte sich nicht, jemals für etwas anderes gelobt worden zu sein als für perfekte Leistungen.
Oft genug drückte seine Mutter ihre Enttäuschung darüber aus, dass er ein Einzelkind blieb. Als er schließlich alt genug war, um zu verstehen, dass man dies als große Familientragödie betrachtete, beschloss er, etwas dagegen zu tun. Mit der Aufrichtigkeit und der mangelhaften Logik eines Achtjährigen machte er sich auf, der Welt zu erklären, dass er überhaupt kein Einzelkind war. Er hatte nämlich einen älteren Halbbruder namens Noah Calhoun, der
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