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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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weiß, wann sie sie zum letzten Mal ausgezogen hatte. Schließlich konnte ich den Stiefel vorsichtig über die Ferse manövrieren, dann zog ich. Zu meinem Entsetzen war ein metallisches Kratzen zu hören. Was war das? Was hatte ich getan? Als ich den Stiefel in der Hand hatte, sah ich etwas Erstaunliches. Ihre Fußnägel waren etwa zwanzig bis dreißig Zentimeter lang und bis zu zweieinhalb Zentimeter dick. Sie waren verdreht und gebogen und schlangen sich um- und übereinander und an einigen Zehen blutete oder nässte das Nagelbett. Der Gestank war abscheulich. Ihre Füße waren in einem schrecklichen Zustand. Wie nur hatte sie es geschafft, mit diesen Füßen all die Jahre durch ganz Poplar zu streifen?
    Sie tat keinen Mucks, als ich ihr die Stiefel auszog, obwohl es sicher wehtat, und sie betrachtete ihre nackten Füße ohne jede Verwunderung – vielleicht glaubte sie, dass jeder solche Fußnägel habe. Ich half ihr zur Wanne hinüber, was sich als erstaunlich schwierig erwies, denn ohne ihre Stiefel versagte ihr Gleichgewichtssinn und ständig kamen ihr ihre Fußnägel in die Quere, sodass sie fast darüber stolperte.
    Sie machte einen Schritt über den Rand der großen Blechwanne, setzte sich genüsslich ins Wasser und plantschte und kicherte wie ein kleines Mädchen. Sie griff sich den Waschlappen, saugte geräuschvoll das Wasser heraus und schaute mit strahlenden Augen zu mir auf. Es war warm im Zimmer, denn ich hatte das Feuer ordentlich angefacht, und ein Kater näherte sich vorsichtig und schaute neugierig über den Rand der Wanne. Sie spritzte ihm kichernd Wasser ins Gesicht, worauf er sich beleidigt zurückzog. Als die Haustür schlug, schaute sie sofort auf. »Rosie, bis du das? Komm her, Mädchen, un schau dir deine alte Mutter an. So was gibts nich oft zu sehn.«
    Doch die Schritte entfernten sich die Treppe hinauf und Rosie kam nicht.
    Ich wusch Mrs Jenkins von oben bis unten und wickelte sie in große Handtücher, die die Schwestern mir mitgegeben hatten. Ich hatte ihr auch die Haare gewaschen und machte ihr einen Turban. Allzu viele Flöhe hatte ich nicht bemerkt, aber ich machte ihr eine Sassafras-Packung, um eventuelle Nissen abzutöten. Das Einzige, womit ich nicht zurechtkam, waren ihre Fußnägel – um diese Monster zu bewältigen, musste ein guter Fußpfleger gerufen werden. (Aus sicherer Quelle weiß ich, dass Mrs Jenkins’ Fußnägel bis heute in einer Vitrine in der Eingangshalle des britischen Verbands der Fußpfleger ausgestellt sind.)
    Die Nonnen hatten einen Vorrat gebrauchter Kleider, die sie auf Flohmärkten erstanden hatten. Schwester Evangelina hatte mit mir einige Stücke herausgesucht, die ich nun mitgebracht hatte. Mrs Jenkins betrachtete das Unterhemd und den Schlüpfer und strich ergriffen über den weichen Stoff. »Is das für mich? Ach, das is zu gut. Behalt die Sachen lieber selber, Schätzchen, die sind zu gut für eine wie mich.«
    Nur mit einiger Mühe überredete ich sie, sie anzuziehen, anschließend strich sie mit den Händen wieder und wieder voller Erstaunen über ihren dürren Körper, als könne sie es nicht fassen, dass sie nun diese neue Unterwäsche trug. Ich zog ihr die Flohmarktkleider an, die ihr sämtlich zu groß waren, und brachte ihre alten Sachen still und heimlich durch die Hintertür nach draußen.
    Sie ließ sich zufrieden in ihrem Sessel nieder und strich über ihre neuen Kleider. Eine Katze sprang auf ihren Schoß und Mrs Jenkins kraulte sie zärtlich.
    »Rosie wird staunen, wenn sie mich in dem feinen Zeug sieht, was, Mieze? Sie erkennt ihre alte Mum gar nich wieder, wenn sie wie ne Königin zurechtgemacht is.«
    Mit dem beglückenden Gefühl, dass unsere Arbeit viel an ihrer untragbaren Lebenslage verbesserte, verließ ich sie. Draußen steckte ich ihre verflohten Kleider in einen Müllsack und hielt nach einer Abfalltonne Ausschau. Nirgends war eine zu sehen. Es gab keine Müllabfuhr mehr in dieser Gegend, denn es sollte ja auch niemand mehr in den zum Abriss bestimmten Häusern leben, also war auch die öffentliche Grundversorgung eingestellt. Dass dort dennoch Menschen lebten – was jeder, auch die Stadtverwaltung, wusste –, änderte nichts an der Politik. Ich ließ den Kleidersack zwischen den Müllhaufen zurück, die ohnehin überall lagen.
    Eine bedrohliche Atmosphäre des Verfalls lag wie ein tödlicher Dunst über der ganzen Gegend. Die Bombenkrater waren voller Müll und stanken furchtbar. Nackte Mauerreste ragten in den Himmel.

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