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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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Meine Pfennigabsätze brachten mich fast um. Ich musste noch eine Meile bis zum Nonnatus House zurücklaufen und vor mir lag ein anstrengender Arbeitstag. Ich fluchte innerlich, dass ich mich überhaupt eingemischt hatte. Leicht hätte ich an der Bushaltestelle »Nein, ich habe keine fünf Pfund Kleingeld« sagen und weitergehen können.
    Aber ich sah Mary vor der verschlossenen Tür stehen. Sie wirkte so klein und verwundbar und dabei schien sie mir ganz und gar zu vertrauen. Wie konnte ich sie auf der Straße zurücklassen, derweil möglicherweise Männer nach ihr suchten, um sie umzubringen? Wem würde auffallen, wenn sie verschwand? Ich dachte: »Hier, aus Gottes großer Gnade, stehe ich«, und dieses heilige Wort galt hier mehr, als man vielleicht glauben mag.
    Sie zitterte, denn die Nacht war kalt, und sie zog ihre dünne Jacke enger um den Nacken. Ich trug einen warmen Kamelhaarmantel mit einem schönen Pelzkragen, auf den ich sehr stolz war. Den Kragen konnte man abnehmen, also löste ich ihn und legte ihn um ihren schmalen, kleinen Hals. Sie seufzte vor Freude und kuschelte sich in den warmen Pelz.
    »Oh, das ist herrlich«, sagte sie und lächelte.
    »Los«, sagte ich, »du kommst jetzt mit mir.«
    * Die »weibliche« Variante der YMCA . Die Abkürzung steht für Young Women’s Christian Association , etwa Christliche Vereinigung junger Frauen (Anm. d. Übers.).

Zakir
    Die Meile Fußmarsch von der YWCA zum Nonnatus House zog sich endlos hin. Ich war zu müde zum Reden, und so gingen wir schweigend. Zuerst konnte ich an nichts als meine Füße denken und an diese höllischen Schuhe, die elegant aussehen sollten, aber nicht zum Wandern gedacht waren. Plötzlich hatte ich die hervorragende Idee, die verdammten Dinger einfach auszuziehen! Das habe ich dann auch gemacht, und die Strümpfe gleich mit. Das kalte Pflaster fühlte sich herrlich an, was meine Laune hob.
    Was sollte jetzt mit Mary geschehen? Es gab im Nonnatus House nur zehn Schlafzimmer und die waren alle belegt. Ich beschloss, sie im Wohnzimmer des Personals unterzubringen und Decken aus dem Lager zu besorgen. Ich wusste, dass ich vor halb sechs aufstehen musste, um Schwester Julienne Bescheid zu sagen, wenn sie aus der Kapelle kam. Ich konnte nicht riskieren, dass jemand das Mädchen fand, ohne dass ich zuvor die leitende Schwester informiert hatte. Die Nonnen nahmen nicht jeden Notleidenden auf, der an ihre Tür klopfte, und sie konnten es auch gar nicht, sonst wäre das Haus schnell überfüllt gewesen und in den zehn Schlafzimmern hätten bald zehn in jedem Bett gelegen! Die Nonnen hatten eine bestimmte Aufgabe im Bezirk – Krankenpflege und Geburtshilfe – und ihr Einsatz musste vor allem diesem Ziel dienen.
    Als ich barfuß neben ihr hertrottete, dachte ich über Marys Worte über den Fernfahrer nach: »Er war der letzte anständige Mann, den ich in diesem Land kennengelernt habe.« Wie tragisch. Es gibt doch Millionen anständiger Männer, die große Mehrheit von ihnen ist anständig. Warum waren sie ihr, einem so hübschen Mädchen, nie begegnet? Wie war sie in diese missliche Lage geraten? War vielleicht Liebe im Spiel? Oder war es ein Mangel an Liebe? Wäre ich vielleicht in Marys Situation, wenn die Liebe nicht ihren Teil beigetragen hätte? Ich dachte, wie so oft, an den Mann, den ich liebte. Als wir uns kennenlernten, war ich erst fünfzehn. Leicht hätte er mich benutzen und missbrauchen können, aber das tat er nicht. Er behandelte mich voller Respekt. Er war bis über beide Ohren in mich verliebt und wünschte sich für mich nur das Beste. Er sorgte für meine Bildung, beschützte mich und begleitete mich durch meine Teenagerjahre. Wäre ich mit fünfzehn dem falschen Mann begegnet, so überlegte ich, wäre ich wahrscheinlich in der gleichen Situation wie Mary jetzt.
    Wir stapften schweigend weiter. Ich wusste nicht, worüber Mary nachdachte, aber ich sehnte mich zutiefst danach, den Mann, den ich so sehr liebte, zu sehen, zu hören und zu berühren. Die arme Kleine. Was für Berührungen waren ihr wiederfahren, wenn der Fernfahrer der einzige anständige Mann war, dem sie begegnet war?
    Wir erreichten das Nonnatus House. Es war kurz vor zwei Uhr. Ich versorgte Mary im Wohnzimmer mit ein paar Decken und sagte: »Schlaf gut, wir sehen uns morgen früh.«
    Ich ging zu Bett und stellte meinen Wecker auf Viertel nach fünf.
    Die Schwestern waren überrascht, mich zu sehen, als sie aus der Kapelle kamen. Gemäß ihrer Ordensregel war

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