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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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das kühle Glas.
     
    Später erwähnte ich Harry gegenüber, wie interessant ich das Tier in der Flasche fand. Überrascht blickte er von seinem Buch auf. »Du warst in der Bibliothek?«
    »Ja«, sagte ich und fügte schnell hinzu: »Großpapa hat mich eingeladen.«
    »Na dann. Hast du auch das Flaschenschiff gesehen? Das fand ich am interessantesten. Allerdings hatte ich nie genug Zeit, mir alle Gegenstände dort anzusehen. Das Schiff hat er vor Jahren von der Freiwilligen Feuerwehr bekommen, als er ihnen Geld gespendet und einen Spritzenwagen gekauft hat. Ich hoffe, er hinterlässt es mir in seinem Testament.« Harry sah mich fragend an. »Es kommt mir so vor, als würdest du neuerdings viel Zeit mit ihm verbringen.«
    »Ab und zu.«
    »Worüber redet ihr denn so, der alte Herr und du?«
    Ich wurde vorsichtig. Wegen Harry machte ich mir zwar weniger Sorgen, doch was wäre, wenn meine jüngeren Brüder herausfänden, dass Großpapa eine unerschöpfliche Quelle für die seltsamsten, faszinierendsten Geschichten über Raubtiere, Heißluftballons oder Kämpfe mit Indianern war? Nie wieder hätte ich ihn für mich.
    »Ach, alles Mögliche«, sagte ich und wurde rot. Ich mochte es überhaupt nicht, Geheimnisse vor Harry zu haben. Er wandte sich wieder seinem Buch zu, und ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. Seine Gedanken waren schon wieder woanders, doch er strich mir noch übers Haar und sagte: »Aber du bist und bleibst mein Kätzchen, stimmt’s?«
    »Ja«, antwortete ich, »stimmt.«
    Dass auch andere Mitglieder der Familie bemerkten, dass ich viel Zeit mit Großpapa verbrachte, fiel mir erst auf, als Jim Bowie fragte: »Wieso spielst du mehr mit Großpapa als mit mir, Callie?«
    »Das ist nicht wahr, J. B.«, sagte ich, »du und ich, wir spielen doch viel zusammen. Und außerdem spiele ich nicht mit Großpapa, es geht um Naturwissenschaft.« Schon während ich das sagte, wurde mir klar, wie hochtrabend das klang.
    »Was ist das?«
    »Dabei studiert man die Welt um einen herum und versucht dahinterzukommen, wie alles funktioniert.«
    »Kann ich das auch?«
    »Vielleicht, wenn du so alt bist wie ich.«
    J. B. dachte darüber nach, dann sagte er: »Ich will nicht. Großpapa ist gruselig. Er guckt immer so ernst, und außerdem riecht er komisch.«
    Das stimmte. Großpapa roch nach Wolle, nach Tabak, nach Mottenkugeln und nach Pfefferminz. Und manchmal auch nach Whiskey.
    J. B. redete weiter. »Er ist auch gar nicht lustig. Der Opa von meinem Freund Freddy, der ist richtig lustig. Und was ist mit unserem anderen Opa? Freddy hat zwei, wieso haben wir dann nur einen?«
    »Der andere lebte schon nicht mehr, als du auf die Welt gekommen bist. Er hat sich mit Typhus angesteckt und ist daran gestorben.«
    »Oh.« Wieder dachte J. B. eine Weile nach. »Können wir nicht einen neuen bekommen?«
    »Nein, J. B., der andere Großvater war erst Mutters Vater, und später ist er dann krank geworden und gestorben.« Der Gedanke, dass Mutter selbst einmal ein Kind gewesen war, schien J. B. zu überraschen.
    »Aber wieso können wir dann keinen neuen haben?«
    »Das ist schwer zu erklären, J. B. Eines Tages verstehst du das«, sagte ich.
    »Okay.«
    Wann immer ich ihm das sagte, anstatt wie Sul Ross wütend zu werden über seine Fragen, nahm J. B. das vertrauensvoll hin. Er reckte die Arme hoch, um mir einen Kuss zu geben.
    »Wer ist deine Lieblingsschwester?«, fragte ich.
    Er kicherte. »Du, Callie Vee.«
    »Ach, J. B.«, hauchte ich ihm in sein seidiges Haar. Er war wirklich so süß.
    »Was?«
    »Nichts. Ich spiel jetzt wieder öfter mit dir, okay?«
    »’kay.«
    Mir war es mit meinem Versprechen auch ganz ernst gewesen. Doch es gab so viel für mich zu tun seit jenem einzigartigen Tag, als ich mich im Fluss treiben ließ, zum Himmel aufsah und mich wie ein Blitz die Erkenntnis traf. Als ich zu begreifen anfing, wie alles zusammenhing, das mit den Grashüpfern im Besonderen und mit der Welt im Allgemeinen. Als ich an jenem Tag aus dem Wasser stieg, war aus mir eine Entdeckerin geworden, und das Erste, was ich entdeckte, war ein Mitglied meiner eigenen Spezies, und es lebte gleich am anderen Ende der Eingangshalle. Unter unserem Dach gab es jemanden, der eine wahre Fundgrube war, doch keiner meiner Brüder merkte das.
     
    »Kommst du, Calpurnia?«, rief Großpapa.
    »Ja, Großvater, komme schon!« Ich raste in die Eingangshalle. Über der Schulter trug ich den Angelkorb, einen alten aus Weidengeflecht, der Großpapa gehört

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