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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Gitterstäben hindurch und öffnete geschickt den Riegel, trotz der feinen silbernen Kette, die von der angenagten Sitzstange zu einem seiner Knöchel verlief. Er spreizte eine seiner langen, leuchtend blauen Federn, schüttelte den Kopf und hob und senkte die Brust in einer irgendwie bedrohlichen Geste. Dann drehte er sich zu uns um und betrachtete uns mit seinen kreisrunden gelben Augen.
    Wir waren sprachlos. Keiner von uns hatte je etwas Ähnliches gesehen. Mutter sah den Vogel zunächst ganz erschrocken an, doch als hätte er sofort begriffen, dass seine Zukunft auf dem Spiel stand, begann er zu pfeifen, eine erstaunliche Version des Liedes When You and I Were Young, Maggie, mit allen Trillern und Kadenzen. War das wirklich reiner Zufall? Oder hatte dieser Vogel auf irgendeine Weise erraten, dass meine Mutter Margaret hieß und dieses Lied ganz besonders liebte? Der Gedanke schien mir nicht ganz abwegig, denn aus den gelben Augen des Tiers strahlte eine kalte Intelligenz, und so war ich dankbar, dass es angekettet war. Der Name des Papageis war Polly, was sonst, und er war unser Geburtstagsgeschenk. Was konnte Mutter also schon dagegen machen?
    Und so blieb er, wenigstens eine Zeitlang. Bald stellte er sich als so reizbar und überempfindlich heraus, wie er aussah. Angesichts eines enormen Schnabels und der gewaltigen schwarzen Klauen wäre es niemandem eingefallen, ihn loszuketten. Alle waren eingeschüchtert: Eltern, Kinder, Hunde, Katzen. Alle machten einen großen Bogen um den Platz, an dem er stand, außer um ihm Wasser und Futter zu bringen und das Papier am Boden des Käfigs auszuwechseln. Täglich schärfte er seinen Schnabel an beiden Seiten eines Wetzsteins, gerade so, wie Menschen Messer schleifen. Gern hätte ich mir diesen Vorgang aus nächster Nähe angesehen, doch mir fehlte der Mut. Polly schien es nichts auszumachen, keine Freunde zu haben. Er verbrachte seine Tage damit, missmutig vor sich hin zu murmeln und freche Seemannslieder zu singen, und zwischendurch stieß er einen seiner ohrenbetäubenden Schreie aus, die vermutlich keinen anderen Sinn hatten, als dass alle vor Schreck zusammenzuckten.
    Wir gingen immer mehr dazu über, seinen Käfig abzudecken, nur um eine Weile Ruhe zu haben. Ich vermute, alle wären wir froh gewesen, ihn loszuwerden, doch niemand traute sich, das laut auszusprechen. Stattdessen warteten wir darauf, dass sich ein guter Grund ergab, immerhin war Polly doch unser Geburtstagsgeschenk.
    Dieser gute Grund bot sich während eines der Nachmittagstees unserer Mutter, als Polly eine der geladenen Damen, Mrs. Purtle, mit der Aufforderung begrüßte: »Du kannst mich mal …!« Ich wusste nicht, was das heißen sollte, doch Mutter und Mrs. Purtle schienen es zu wissen. Es dauerte keine Stunde, bis Alberto Polly zur Cotton Gin hinunterbrachte und ihn Mr. O’Flanagan überreichte.
    Mr. O’Flanagan, der Stellvertretende Geschäftsführer der Firma, war früher auf Handelsschiffen zur See gefahren und liebte die Gesellschaft von Vögeln. Er hatte einmal einen steinalten Raben besessen, den er Edgar Allan Crow nannte. Jahrelang hatte er sich bemüht, dem Vogel das Wort nimmermehr beizubringen, doch das Tier blieb stumm, bis es eines Tages doch krächzte, ein einziges Mal, und danach altersschwach von seiner Stange fiel. Mr. O’Flanagan war begeistert, als er hörte, dass wir einen echten Papagei besaßen, der auch noch sprechen konnte, und übernahm Polly begeistert. Als alter Seebär nahm er an der raubeinigen Gesellschaft keinen Anstoß. Es stellte sich heraus, dass die beiden dieselben unanständigen Lieder kannten, und wenn gerade keine Kunden da waren, vertrieben sie sich die Zeit damit, zusammen zu singen – bei geschlossener Tür natürlich.
    Vermisst wurde Polly von niemandem, vermutlich nicht einmal von Großpapa.

 
     
     
    Einundzwanzigstes Kapitel
     
    DER REPRODUKTIVE
    IMPERATIV
     
    Auslese ist sowohl bei der Familie als bei den Individuen anwendbar und kann daher zum erwünschten Ziele führen.
     
     
    Und tatsächlich wurde Harry schon bald darauf zum Dinner mit Fern Spitty eingeladen. Natürlich nicht so direkt – die Gates luden ihn ein, und ganz zufällig war Fern dort vierzehn Tage zu Besuch. Seit dem Drama um Minerva Goodacre waren erst wenige Monate vergangen, aber es sah ganz so aus, als wäre Harrys gebrochenes Herz schon wieder geheilt. Fern war erst kürzlich in die Gesellschaft von Lockhart eingeführt worden, und so wurde es Zeit, dass sie endlich

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