Cambion Chronicles - Smaragdgrün wie die Dämmerung (German Edition)
bitte, bleib ganz ruhig.« Ihre Stimme versagte, als sie mir etwas vorsummte und versuchte, mich zu beruhigen. Ich wusste nicht, wer mehr zitterte – ich oder sie.
Jetzt konnte ich mir ansatzweise vorstellen, was Mom durchgemacht haben musste, als sie sich von Dad getrennt hatte – der Verlust, die Verletzlichkeit. Ich fragte mich, was mehr wehtat: mit anzusehen, wie jemand, den du liebst, wieder heiratet und ohne dich eine neue Familie gründet, oder hilflos mit anzusehen, wie ein geliebter Mensch vor deinen Augen stirbt, wie Calebs Vater es erleben musste. Beides endete in Trauer, dem langsamsten aller Tode.
Ich trocknete meine Tränen an Moms Pullover. Ich hatte ihr nie erzählt, was die Münzen bedeuteten, aber bestimmt wusste sie, dass sie etwas mit Caleb zu tun hatten. Sie nahm mich in den Arm, zog das Einmachglas zu uns herüber und zählte die Münzen eine nach der anderen. Nach zwanzig Minuten Suchen fanden wir die fehlende Münze in meiner Socke. Zu erschöpft für alles andere kroch ich ins Bett und rührte mich nicht mehr. Das Münzenglas hielt ich fest an mich gedrückt.
Mom saß am Fußende des Bettes. Ihre Tochter war gerade wegen ein bisschen Kleingeld ausgerastet, und sie hatte nichts dagegen unternehmen können.
»Ich wusste, dass das passieren würde. Evangeline hat mich schon davor gewarnt, aber …« Mom schluckte hörbar. Mit brüchiger Stimme fügte sie hinzu: »Das ist erst der Anfang.«
9
F ür meinen ersten Tag in der Schule was zum Anziehen zu finden, war schlicht vergebliche Liebesmüh.
Im Spiegel sah ich nicht mich, sondern eine Drogensüchtige, die frisch aus der Entzugsklinik kam. Kapuzenpulli und Jeans hingen formlos an meinem Körper. Meine Haut sah wachsartig und durch die fehlende Sonne fast grün aus. Ich hatte dunkle Augenringe, und das smaragdgrüne Leuchten war aus meinen Augen verschwunden. Da gab es nichts zu beschönigen: Ich sah total fertig aus. Es passte zum Grad meiner Begeisterung, wieder in die Schule zu gehen, also brauchte ich nichts daran zu ändern. Allein beim Gedanken an feste Nahrung wurde mir übel, also schüttete ich ein Glas Orangensaft in mich hinein, gab Mom einen flüchtigen Kuss auf die Wange und machte mich auf den Weg.
Die James City Highschool ähnelte einem Pulverfass und hielt zur Begrüßung eine ordentliche Dosis Realität für mich bereit. Die Showeinlage auf der Halloweenparty hatte sich sowohl unter den Schülern als auch unter den Lehrern herumgesprochen. Das Gute daran war, dass meine Lehrer sich mir gegenüber etwas diplomatischer zeigten und mir sogar anboten, ich könne jederzeit mit ihnen reden, wenn ich Rat bräuchte. Ihr Mitgefühl half mir ein wenig über den Berg an Nachholklausuren und überfälligen Abgabeterminen hinweg.
Das Schlechte an der ganzen Sache: Ich musste noch mehr feindselige Blicke und geflüsterte Gehässigkeiten ertragen, dazu die haarsträubendsten Fantasiegeschichten, die mir je zu Ohren gekommen waren. Die Rädelsführerin in dem ganzen Zirkus war Courtney B., die mir eine Drogentherapie nahelegte und mir unverlangt Beziehungsratschläge erteilte. Als würde ich einen Rat von jemandem annehmen, der sich nicht mal meinen Namen merken konnte.
»Weißt du, Samantha, du hast noch dein ganzes Leben vor dir«, sagte sie, als sie mich zur Turnhalle begleitete. »Wenn du mit den falschen Leuten rumhängst, bekommst du in keiner Frittenbude einen Job, aber es ist gut, dass du es jetzt weißt. Der arme Caleb, was für ein tragisches Ende, aber du wirst schon drüber hinwegkommen.« Sie sah mit falschem Mitgefühl auf mich herab und schlenderte davon, flankiert von den anderen beiden Courtneys.
Nicht mal zehn Sekunden später warf sich Alicia hektisch und atemlos in meine Arme. »Ogottogott, Sam! Ich habe gehört, du warst im Krankenhaus, und die Polizei ist hinter Caleb her, weil er versucht hat, dich mit Pfeil und Bogen zu erschießen. Geht es dir gut? Musstest du genäht werden?«
»Was? Nein, Alicia, alles in Ordnung mit mir. Er hatte eine allergische Reaktion auf ein Lebensmittel und liegt im Koma.«
Sie wich schockiert zurück. »Oh nein! Hoffentlich wird er wieder gesund.« Sie hielt sich den Mund zu und runzelte die Stirn, als ihr eine Frage in den Sinn kam. »Warte mal, wenn Caleb krank ist, warum warst du dann …«
»Oh, ist das schon spät!«, rief ich etwas zu laut und sah auf die Uhr am Schwarzen Brett. »Ich muss zum Sport. Ich richte Caleb aus, dass du nach ihm gefragt hast – also tschüss
Weitere Kostenlose Bücher