Camel Club 01 - Die Wächter
schlafen versucht, doch die ungewöhnlichen Ereignisse der Nacht machten es ihm unmöglich. Er zündete ein Feuer an, um die Kälte zu vertreiben, setzte sich an den Kamin und las bis zum Morgengrauen. Währenddessen befassten seine Gedanken sich wiederholt mit Patrick Johnsons Tod. Oder vielmehr mit Johnsons Ermordung. Am Morgen bereitete Stone sich Kaffee und ein karges Frühstück zu. Anschließend erledigte er auf dem Friedhofsgelände ein paar Stunden lang seine Pflichten. Während er Unkraut jätete, Rasen mähte und uralte Grabsteine von Moos befreite, dachte er darüber nach, dass er und seine Freunde letzte Nacht um ein Haar ihr Leben verloren hätten. Eine solche Situation hatte Stone in seinem früheren Dasein viele Male gekannt und mit der Zeit zu verwinden gelernt. Aber dieses Mal kam er nicht so leicht darüber hinweg.
Als er die Arbeit beendet hatte, kehrte er ins Haus zurück und duschte. Im Spiegel betrachtete er sein Abbild und traf eine Entscheidung. Leider fehlte es ihm am richtigen Werkzeug, um diesen Entschluss in die Tat umzusetzen. Caleb und Reuben mussten auf ihrer Arbeitsstelle sein. Und Milton traute er schlichtweg nicht zu, dass er die Aufgabe anständig ausführte.
Es gab nur eine Alternative. Er machte sich auf den Weg nach Chinatown.
»Adelphia?«, rief Stone. Inzwischen war es fünfundvierzig Minuten später; er stand vor ihrer Wohnung, die sich über einem Waschsalon befand. »Adelphia?«, wiederholte er und fragte sich, ob sie schon außer Haus sein könnte. Dann aber hörte er, dass Schritte sich näherten. Adelphia, das Haar im Nacken zu einem Dutt gebunden und in eine schwarze Hose und einen langen Pullover gekleidet, öffnete die Tür. Verdutzt blickte sie ihn an.
»Woher Sie wissen, wo ich wohne?«
»Sie haben’s mir irgendwann mal erzählt«, sagte Stone.
»Ach.« Sie furchte die Stirn. »Wie Sitzung gelaufen?«, fragte sie gereizt.
»Es gab ein paar echte Überraschungen.«
»Was tun Sie möchten, Oliver?«
Stone räusperte sich und äußerte, was er sich zurechtgelegt hatte. »Ich habe über Ihren Rat nachgedacht, was meine Erscheinung angeht. Da habe ich mich gefragt, ob Sie wohl so nett wären, mir die Haare zu schneiden. Ich könnte das zwar selber versuchen, aber im Ergebnis sähe ich wahrscheinlich schlimmer aus als jetzt.«
»Übel aussehen tun Sie nicht.« Diese Bemerkung kam Adelphia anscheinend wider Willen über die Lippen, denn sie hüstelte verlegen. Dann musterte sie Stone mit verwunderten Blicken. »Also Sie nehmen an mein Rat?«
Er nickte. »Ich besorge mir auch neue Klamotten. Und Schuhe.«
Misstrauisch sah Adelphia ihm ins Gesicht. »Und der Bart? Sie aussehen wie Rumpelstein.«
»Rumpelstilzchen. Ja, der Bart soll auch ab. Rasieren kann ich mich aber selbst.«
Adelphia winkte ab. »Nein, ich mache. Oft ich habe geträumt davon, dass Bart ab.« Sie winkte ein zweites Mal, diesmal ins Innere der Wohnung. »Kommen, kommen, wir sofort schneiden, ehe Sie überlegen anders sich.« Stone folgte ihr in die Wohnung und sah sich um. Zu seinem Erstaunen hatte Adelphias Behausung ein sauberes, aufgeräumtes Interieur. Dabei hatte Adelphias Persönlichkeit viel zu impulsiv und sprunghaft gewirkt, als dass er bei ihr Sinn für Ordnung vermutet hätte. Sie führte Stone ins Bad und zeigte aufs Klo. »Setzen.«
Stone nahm Platz, während Adelphia die erforderlichen Utensilien zusammensuchte. Vom Bad aus konnte Stone im Flur ein Regal mit zahlreichen Büchern über die verschiedensten Themen sehen, einige davon in Sprachen, die Stone nicht kannte, obwohl er viele Jahre durch die Welt gereist war. Er zeigte auf die Bücher. »Beherrschen Sie alle diese Sprachen, Adelphia?«
Sie unterbrach das Zurechtlegen des Werkzeugs und sah Stone befremdet an. »Warum sollt ich rumstehen haben Bücher, ich kann nicht lesen? Ist meine Wohnung so groß, dass ich Sachen aufwahre, ich kann nicht brauchen?«
»Das sehe ich ein.«
Sie schlang ein Laken um Stone und verknotete es im Nacken. »Wie viel Abschneiden tun Sie wünschen?«
»Bis über die Ohren und freier Hals.«
»Sie sicher?«
»Ganz sicher.«
Adelphia schnitt Stone die Haare, kämmte sie zu guter Letzt und bändigte ein paar widerspenstige Wirbel mit Gel. Als Nächstes schnitt sie ihm den dichten Bart mit der Schere und hatte ihn bald größtenteils entfernt; dann ergriff sie einen anderen Gegenstand.
»Den ich verwende für Beine«, erklärte sie und hielt einen Damenrasierer in die Höhe. »Aber auch kann
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