Camel Club 01 - Die Wächter
versucht, seine Tochter ausfindig zu machen. Beth. Ihr voller Name hatte Elizabeth gelautet, aber sie war stets nur Beth gerufen worden. Sie war ein bildhübsches Kind gewesen, der ganze Stolz ihres Vaters. Und vor Jahren hatte er sie in einer schrecklichen Nacht für immer verloren.
Als Stone endlich die Wahrheit über die Geschehnisse jener Nacht erfuhr, war er nur noch vom Wunsch nach Rache erfüllt gewesen – bis etwas geschehen war, das sein Verlangen nach Vergeltung verscheucht hatte. In der Zeitung las er vom gewaltsamen Tod eines bedeutenden Mannes in einem Land in Übersee. Der Mord wurde nie aufgeklärt. Der Mann hinterließ Frau und Kinder. Stone erkannte an dem Mordfall den Arbeitsstil seines einstigen Chefs. Der gesamte Ablauf der Tat war für ihn nur allzu deutlich wieder zu erkennen.
Und da begriff Stone, dass er seinen Wunsch nach Rache vergessen musste, dass er sich keine Vergeltung anmaßen durfte, obwohl man seine Frau ermordet und ihm das Kind fortgenommen hatte. Auch er selbst hatte viele Sünden unter dem zweifelhaften Deckmantel des Patriotismus begangen.
Er tauchte unter und reiste um die Welt, wobei er eine Vielzahl von Decknamen benutzte. Es hatte ihm keine Schwierigkeiten bereitet; seine Regierung hatte ihn bestens dafür ausgebildet. Nach vielen Jahren des Umhertreibens hatte er sich für die einzige noch mögliche Option entschieden: Er verwandelte sich in Oliver Stone, einen Mann des stillen Protests, der in Amerika bedeutsame Ereignisse verfolgte und sich mit Angelegenheiten befasste, die anscheinend niemanden sonst interessierten.
Doch reichte dies alles längst nicht aus, um den Schmerz über den Verlust jener beiden Menschen zu betäuben, die ihm alles bedeutet hatten. Dieses Leid musste er bis zu seinem letzten Atemzug ertragen.
Als Stone am niedergebrannten Kaminfeuer einschlief, schimmerte auf dem Hochglanzpapier des Fotoalbums noch lange das Nass seiner Tränen.
KAPITEL 27
In ihrer kleinen Wohnung am Ortsrand von Brennan, Pennsylvania, stand Djamila um fünf Uhr in der Frühe auf. Kurz nach Anbruch der Morgendämmerung verrichtete sie das erste Gebet des Tages. Nachdem sie sich gewaschen, die Schuhe ausgezogen und den Kopf bedeckt hatte, vollzog sie auf dem Gebetsteppich im Stehen, Sitzen und Liegen sowie mit den vorgeschriebenen Verbeugungen das islamische Gebetsritual. Zuerst sprach sie das schahada , das zentrale Bekenntnis des moslemischen Glaubens: La ilaha illa llah. Es gibt keinen Gott außer Gott. Danach zitierte sie die Eingangssure, das erste Kapitel des Korans. Alles geschah lautlos; nur ihre Lippen bewegten sich. Als sie das salat beendet hatte, kleidete sie sich für die Arbeit um, ehe sie frühstückte.
Als sie in der winzigen Küche saß, dachte Djamila an das Gespräch, das sie am Vortag mit Lori Franklin geführt hatte. Djamila lebte mit Lügen, aber das würde die Amerikanerin niemals erfahren. Djamilas offizielle Papiere wiesen sie als Saudi aus. Diese Unwahrheit und die Tatsache, dass sie eine Frau war, hatten ihr sogar in der Zeit nach dem 11. September zur problemlosen Einreise nach Amerika verholfen. In Wahrheit war Djamila von Geburt Iraki und vom Glauben her sunnitische Muslima. Mehr als achtzig Prozent aller Moslems waren Sunniten; nur im Irak stellten sie die Minderheit. In früheren Zeiten hatten die Sunniten sich mit ihren schiitischen Glaubensbrüdern meist nur um die Frage der Nachfolge des Propheten Mohammed gestritten. Heute waren die Differenzen größer, die Auseinandersetzungen erbitterter.
Nach dem Glauben der Schiiten war der vierte rechtgläubige Kalif, Ali ibn Abi Talib, Mohammeds Vetter und Schwiegersohn, der blutsverwandte wahre Nachfolger des islamischen Propheten. Schiitische Moslems machten sich auf die Wallfahrt zur Blauen Moschee in Mazari-E Sharif, dem Begräbnisort Alis. Die sunnitischen Moslems hingegen vertraten den Glauben, dass Mohammed gar keinen Nachfolger ernannt hatte; deshalb war ihrerseits nach dem Tod des Propheten das Kalifenamt eingeführt worden. Sunniten und Schiiten waren sich darin einig, dass kein Kalif den Rang des Propheten einnahm, doch der Umstand, dass von vier Kalifen drei eines gewaltsamen Todes gestorben waren, zeigte deutlich, dass der unterschiedliche Glaube wie ein Riss durch die moslemische Bevölkerung ging.
Unter dem weltlichen Regime Saddam Husseins hatte Djamila Auto fahren dürfen, wogegen es ihr in Saudi-Arabien unmöglich gewesen wäre. Die Saudis hielten sich an eine sehr strenge
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