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Camorrista

Titel: Camorrista Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giampaolo Simi
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nicht gemerkt.
    »Ihr seht euch nicht ähnlich.«
    Vielleicht hat sie es gemerkt. Jedenfalls freut es mich, dass ihr das aufgefallen ist.
    »Nein, wirklich nicht, das stimmt.«
    »Giovanni gefällt meiner Freundin, aber er sagt nie was.«
    »Mein Bruder macht eine schwierige Phase durch. Padre Jacopo hat mir gesagt, dass er mir dabei helfen kann, einen Platz für ihn zu finden.«
    »Für die Operation?«
    »Ja«, sage ich und hoffe, dass der Padre nicht noch mehr verraten hat.
    Sie reißt ein Blatt ab und schreibt irgendetwas auf. Sie hat eine Schrift wie eine Grundschülerin, setzt die Spitze des Stifts nach jedem Buchstaben ab. Sie bringt ein unaussprechliches Wort zu Ende, faltet das Blatt zusammen und schiebt es mir zu.
    »Es ist nicht in Italien«, sagt sie. »Slowenien, gleich hinter der Grenze.«
    Ich sehe das Blatt an. Neben dem Namen des Ortes steht ein italienischer Nachname, vielleicht nicht richtig geschrieben. Corsinni.

    »Das ist der Name vom Doktor. Er ist Italiener. Sprich mit ihm.«
    »Ist er gut?«, will ich wissen.
    Sie kräuselt die Lippen. Sie trägt einen blassvioletten Lippenstift, der besser zu einem dunkleren Teint passen würde.
    »Man sieht nachher nichts. Es ist wie vorher. Und außerdem verlangt er nur wenig. Meiner Freundin hat er sogar einen Rabatt gegeben. Verstehst du?«
    Sie hebt die Augenbrauen.
    »Ich verstehe«, sage ich, aber Geld ist in unserem Fall kein Problem.
    »Für uns ist das gut. Manchmal kauft dich einer, und der Verkäufer gibt ihm einen Rabatt, weil du einen Fehler hast, nicht?, vielleicht ein Mal, eine Narbe. Aber wenn er das nicht tut, musst du die Operation selbst bezahlen.«
    »Das heißt?«
    Sie sieht mich an, als hätte sie ein Kind vor sich, dem man wirklich alles erklären muss.
    »Operation, Reise und alles schießt dir der Boss vor, aber du musst es ihm zurückzahlen. Du zahlst mit der Arbeit, die du später machst. Monat für Monat. Und deshalb ist ein Rabatt gut. Das ist besser, nicht?«
    Ich stecke das Blatt ein und danke ihr. Ich bleibe noch und sehe mir die Blumen, Blätter und Bonsai-Bäumchen aus Faden und Perlen an.
    »Wie schön. Hast du die gemacht?«
    »Nein, Joséphine. Ich kann es noch nicht gut«, antwortet sie und scheint fast beleidigt. Mein Kompliment ist danebengegangen, und sie beginnt wieder damit, den Nylonfaden durchzuziehen, noch ehe ich das Zimmer verlassen habe.
     
    Bevor ich zur Arbeit gehe, bringe ich meinem Vermieter den Mietscheck.
    Der SUV steht nicht im Garten, und tatsächlich ist nur seine Frau zu Hause. Sie sieht so aus, als wäre sie gerade erst wach geworden oder hätte gar nicht geschlafen. Auch ich bin nicht
besonders in Form. Ich habe bis zwei Uhr an dem Bericht über »die dringlichen provisorischen Sonderschutzmaßnahmen unterstellte Person« gearbeitet. Sollte ich je meine Examensarbeit wieder aufnehmen, würde ich für eine Seite einen Monat brauchen.
    Die Frau stellt mir eine hingekritzelte Quittung aus. In der Wohnung ist nichts von diesem Morgengeruch wahrzunehmen, dieser typischen Mischung aus zerknitterten Bettlaken, Kaffee und Zahnpasta. Sie trägt einen bonbonrosa Baumwollpulli mit langen Ärmeln, die sie bis zu den Handgelenken hinunterzieht, und kurze schwarze Radlerhosen. Über vierzig Jahre alt, aber sie hält sich sehr gut. Ich wage gar nicht, mir vorzustellen, wie ich in zehn Jahren aussehen werde, wenn ich nicht wieder anfange, mehr auf mich zu achten. Doch bei der Arbeit gibt es harte Phasen, in denen man sich anpassen muss. Und im Grunde hat die Versetzung zur Einsatzgruppe Zeugenschutz es mir ermöglicht, näher nach Hause zu kommen. Noch einen Winter in Casale Monferrato hätte ich nicht überlebt.
    »Sie …«
    »Duzen wir uns doch«, sage ich. Mir knurrt der Magen, denn ich habe beschlossen, in der Bar zu frühstücken. Als ich aufgestanden bin, hatte ich nicht mal Lust, die Espressokanne aufzumachen. Vielleicht fragt sie mich, ob ich einen Kaffee möchte, doch sie fährt fort: »Ziehst du dich eigentlich nie wie eine Polizistin an?«
    »Kommt drauf an.«
    »Nein, weil … es ist komisch, ich meine, man sieht dich nie in Uniform.«
    »Also, um ehrlich zu sein: Die Uniform ist nicht besonders kleidsam.«
    Ich lächle, sie kein bisschen. Sie bückt sich, um eine Baumwolldecke aufzuheben, eine von diesen umhäkelten, und faltet sie sorgfältig zusammen, legt sie dann auf die Couch. Sie bedankt sich für den Scheck, der, zu einem V gefaltet, auf dem leeren Tisch liegt, und scheint sehr besorgt

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