Camorrista
Neonlicht und erinnert mich an die Traurigkeit mancher Wintermorgen, wenn man wach wird
und es noch dunkel ist. Aber es ist Mai, und es ist Viertel vor vier. Wenn ich wenigstens in einer großen Stadt wäre, dann könnte ich rausgehen und mir ein Stück Pizza kaufen, eine Runde drehen, den Verkehr beobachten und denken, dass im Grunde doch auch eine ganze Menge anderer Leute nicht schlafen. Aber hier nicht, hier schläft das ganze Dorf. Und in dieser Stille fühle ich mich beobachtet.
Ich schließe die Fensterläden.
Ich verbrenne mir die Lippen und gehe weiter die Liste durch. Warum ist sie nicht in alphabetischer Reihenfolge? Ich bin müde, ich will schnell machen, und so kommt es, dass ich wieder von vorne anfangen muss. Vielleicht haben sie zuerst die Vorbestraften aufgeführt und dann die anderen.
Ich komme wieder bis zur Nummer 62. Der Name Daniele Mastronero ist nicht dabei, und diesmal bin ich mir sicher.
Entweder ist es ein Fehler, oder er ist nie verhaftet worden. Jedenfalls nicht offiziell.
Zehn nach vier. Mein Kaffee ist kalt.
Mir brennen die Augen.
2
K ugeln erzeugen beim Einschuss ein kleines und klar umgrenztes Loch, beim Ausschuss ein größeres, das auseinanderklafft. Wenn sie die Gewebemasse durchdringen, verlieren sie an Geschwindigkeit. Das wusste ich. Aber ich wusste nicht, dass das Loch vom Einschuss manchmal kleiner erscheinen kann als das tatsächliche Kaliber der Waffe, weil die Haut auf den Durchschlag elastisch reagiert.
Am 4. April hat man Gennaro Valente in einer kleinen Querstraße des Corso Due Sicilie fünf Kugeln in den Leib gejagt. Kaliber 9, drei in den Kopf und zwei in den Oberkörper, alle von hinten. Den Gnadenschuss haben sie ihm aus solcher Nähe in den Kopf gegeben, dass die Hitze seine Haare in Brand gesetzt hat. Halb unter Tomaten und Salat vergraben war sein Kopf, als man ihn fand, voller Schaum, als hätte man ihm eine Haarwäsche verpasst. Der Händler hatte zum Feuerlöscher gegriffen, noch bevor er einen Krankenwagen rief.
Im Nacken verdeckten seine Haare die kleinen Einschüsse, und das Blut verschwand unter dem Schaum. Wo die Kugeln ausgetreten sind, haben sie ihm ein Auge und die Zähne so zugerichtet, dass sein Bruder ihn nur anhand des Medaillons der Schmerzensreichen Madonna identifizieren konnte. Er trug es seit seiner Geburt um den Hals.
Das Computerdossier enthält Hunderte von Fotos und Bemerkungen der Spurensicherung. Eine vorzügliche Arbeit. Beteiligt daran sind eine junge Staatsanwältin, Giovanna Massacesi, eine energische Frau, der stellvertretende Polizeipräsident Lozzola von der Antimafiabehörde DIA und Paolo
D’Intrò als Kopf der Operation. Ich lese die Geschichte der Aprilfehde, so hat man sie in den Zeitungen genannt, als wäre dies eine Art, den Frühling zu begrüßen.
Die Fehde verhält sich zur Operation Antigone wie eine Mutter zur Tochter, sie stellt die Voraussetzungen dafür, ich würde sogar sagen, sie konstituiert ihre Grundsätze.
Doch das ist Philosophie. Die Wahrheit ist, dass ich froh bin, nicht in dieser Hölle zu arbeiten, und hoffe, dass ich es nie tun muss.
Zehn vor fünf. Ich spüle die Espressokanne aus und mache sie noch einmal voll. Diesmal nur mit richtigem Kaffee.
Ich gehe rüber zur Couch.
Zwei Tage später wird Stefania Barone, eine Kartenlegerin, die im Fernsehen auftritt und im ganzen Viertel Travagliano dafür bekannt ist, gegen Wucherzinsen Geld zu verleihen, mit sieben Schüssen aus einer 44er-Magnum getötet.
Gegen acht Uhr abends hat man bei ihr geklingelt, und sie fuhr in Umhängetuch und Pantoffeln nach unten. Man hat sie nicht einmal aus dem Aufzug steigen lassen. Eine vollkommen wahnsinnige Aktion, bei der eine Kugel zurückgeprallt ist und den Killer getroffen hat. Im ganzen Hausflur und dreißig Meter weit auf dem Bürgersteig hat man Blutspuren gefunden, die nicht vom Opfer stammten. Am nächsten Morgen wurde in der Toilette einer Bar in der Nähe der Anlegestelle von Porta Sveva ein zwanzigjähriger Albaner gefunden, bewusstlos und ohne Papiere. Er hatte tausend Euro in bar und ein Ticket nach Barcelona in der Tasche, doch in seinem Körper war nur halb so viel Blut wie normal. Das Einschussloch im rechten Oberschenkel war mit Kleenex und Isolierband versorgt worden. Hämatogener Schock. Als die Sieben-Uhr-Fähre nach Barcelona in See stach, lag er schon im Leichenschauhaus.
Ich hebe den Kopf und schaue zur Uhr. Zwanzig nach fünf. Das Gebläse des Computers surrt, und der
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