Camorrista
alle oben bleiben. Mit den Füßen, mit den Rädern und mit den Häusern.
Wir entfernen uns vom Stau und gehen Richtung Fußgängerzone. Unter einer barocken Sonnenuhr, direkt am Eingang zu einem Platz, der voller Touristen, Kellner und Tauben ist, steht ein Smart geparkt. Er sieht aus wie das einzige Auto im Umkreis von fünf Kilometern, und dann ist er auch noch gelb.
Wir gehen näher heran, und ich sehe sie aussteigen. Sie fällt genauso ins Auge wie das Auto. Cowboystiefel in Schlangenlederoptik, der weiße Streifen des Slips auf der gebräunten Haut, die aus den mit Pailletten besetzten Pumphosen herausschaut. Die blonde, blutjunge, total schlanke Klassefrau. Ich weiß, dass sie mich durch ihre Wraparound-Sunglasses erbarmungslos mustert. Ich bin verwirrt, unfrisiert und totenblass. Es ist nicht der richtige Moment für Vorstellungen, ich lächle höflich, und sie gibt D’Intrò die Schlüssel.
»Um zwei«, sagt sie.
»Um drei«, antwortet D’Intrò.
Sie nimmt es mit einem Lippenkräuseln hin.
»Um vier habe ich ein Casting.«
Der Hauptkommissar erwidert nichts, gibt mir ein Zeichen einzusteigen, wiederholt nur »drei« und setzt sich ans Steuer. Doch bevor er losfährt, macht er noch ein paar Anrufe, redet so stark Dialekt, dass ich fast nichts mehr verstehe, nur ahne, dass er schnell hintereinander Verabredungen trifft.
Wir fahren los, quer durch die Fußgängerzone, während
aus den benachbarten Straßen das Dröhnen des Staus, der sich wie ein Virus ausbreitet, immer lauter wird.
»Sehen Sie diese Häuser? Wissen Sie, womit man sie gebaut hat?«
Ich glaube nicht, dass im Drehbuch etwas anderes als mein »Nein« vorgesehen ist.
»Sie haben sie untergraben. Das war das Einfachste. Jedes Haus, alt oder neu, hat eine Unterkellerung.«
Er fährt langsamer und lässt mit einer Fernbedienung zwei kleine gusseiserne Pfeiler versinken, die die Zufahrt zu einer breiten Straße versperren.
»Wir befinden uns hier über dem Nichts.«
Wir fahren weiter, die Pfeiler kommen wieder hoch, ich sehe ihn an.
»Das alles da unten war bis vor zwanzig Jahren das Reich der Schmuggler. Sie gruben Stollen zwischen den Kellern und legten dort ihre Lager an. Doch es war auch eine Garantie. Sie hielten das Tunnelsystem in Ordnung, kümmerten sich darum, dass es keine Einstürze gab. Ich war erst kurz im Dienst, als mein Chef klipp und klar sagte: Festnahmen machen wir auf dem Meer oder auf der Straße. Aber dort unten setzt niemand einen Fuß hinein. Es besteht das Risiko, nicht wieder nach oben zu kommen, und solange sie dort unten bleiben, ist es besser für alle.«
D’Intrò fährt mit einem gewissen Schwung auf die Straße: Der Corso Due Sicilie ist gedrängt voll von Menschen, baufällige Häuser scheinen mit Mühe die Last riesiger Schilder zu tragen, die in der Sonne glänzen. Ein altes Kino zeigt noch den Schatten der Buchstaben »Metropolitan«, doch die provisorischen Reklametafeln sind die eines Megadiscounts für Kleider.
»Jetzt ist der Untergrund ein Problem, weil die Schmuggler keine Lagerhaltung mehr betreiben.«
» Just in time «, sage ich. Ich staune, dass mindestens jeder zweite Laden festliche Kleidung, Brautkleider, Bonbonnieren und Konfekt verkauft.
»Bitte?«, fragt D’Intrò
»Man nennt das just in time . Die richtige Warenmenge nur dazuhaben, wenn man sie braucht, um sie gleich zu verteilen, ohne Lagerkosten.«
»So ist es. Haben Sie Ermittlungen über illegalen Handel verfolgt?«
»Nein, aber mein Bruder hat eine leitende Stellung im Großhandel.«
Man stellt sich Orte immer anders vor, als sie sind. Es gibt keinen Grund, warum ein Ort, an dem zwei Mädchen ermordet wurden, etwas Besonderes haben sollte, etwas, das im Gedächtnis bleibt. Im Gegenteil. Die Fassade des Happy Fish weist alles auf, was nötig ist, um vergessen zu werden. Die Farbe des Hauses ist ein perfektes Gebäudegrau, die rosa Neonreklame ist furchtbar, am bläulichen Rollgitter hängt noch die mit Isolierband befestigte Todesanzeige mit Trauerrand.
Dann sehe ich das Gerippe der Telefonzelle, in Stücke gerissen wie von einer Ladung Trotyl, und ich sehe auch den Eingang von Nummer 182, wo überall Karten, Blumen, Puppen und Zeichnungen liegen. Ein paar Passanten, insbesondere Frauen, werfen eine Kusshand hin oder bekreuzigen sich, doch viele gehen auch vorbei, ohne hinzuschauen. Man kann nicht mit seinem Leben innehalten, nur weil irgendwo jemand umgebracht wurde. Der Asphalt säuft Blut, die Spuren
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