Camorrista
streunender alter Hund dabei, eine Doppelmatratze auszuweiden. Viele Häuser sind Gerippe aus Ziegelsteinen und Beton, und irgendwann sieht man sogar ein halb zusammengefallenes dreistöckiges Wohnhaus, durch das ein vertikaler Schnitt geht. Es wirkt wie ein hässliches Puppenhaus: Da sind noch die Küchenfliesen, die Tapete und ein paar Waschbecken, die ins Leere ragen.
Bei der ersten Überführung macht D’Intrò mich mit einem Blick auf ein paar Schmieresteher aufmerksam. Jungen, denen der Schritt der Hosen in den Knien hängt, sie tragen breite Gürtel aus beigefarbenem Segeltuch und dicke Ketten, die aus den Taschen baumeln. Im Kreisverkehr drehen Motorroller eine Runde nach der anderen, wie Fliegen, die in einem Glas gefangen sind. Dann plötzlich taucht vor uns eine Art Ozeandampfer auf, gestrandet im Nichts. Mit Recht nennt man sie so, die Blöcke des Viertels 167, Transatlantico , denn von hier aus sehen sie wirklich genauso aus wie ein Ozeandampfer. Gestrandet und korrodiert, das schon, doch nicht verlassen. Im Gegenteil: Voller Leute, die in der Erwartung an Bord gegangen sind, in ein neues Leben aufzubrechen. Nur dass es für Amerika schon seit einer Weile zu spät ist. Und während sie warten, haben sie sich damit abgefunden, Wäsche aufzuhängen und Satellitenantennen zu montieren.
»Hier wohnen mindestens einhunderttausend Menschen«, erzählt mir D’Intrò. »Aber wissen Sie, warum ich mich jedes Mal unwohl fühle?«
So langsam habe ich von diesem Ritual falscher Fragen, von dieser väterlichen Zurschaustellung von Weisheit genug.
»Nein.«
»Weil man sich umschaut und sich fragt, wo sie sind.«
Wir begegnen auch zwei schnellen Einsatzfahrzeugen der
Carabinieri. D’Intrò deutet einen Gruß an, sagt mir, ich solle das Blaulicht nicht herunternehmen.
Block K überragt einen kleinen würfelförmigen Bau, der eine Zeit lang den Kindergarten beherbergt hat, erklärt mir D’Intrò. Doch jetzt hat man Kindergarten, Grund- und Mittelschule auf der anderen Seite des Zubringers in einem neuen Gebäude mit Gittern vor den Fenstern und Videoüberwachung zusammengelegt. In den Blöcken im Süden, die mit den Buchstaben A bis H, sind die Häuser besser, es gibt quasi keine rechtswidrigen Besetzungen mehr, niemand wohnt mehr in den Kellergeschossen. Hier im Norden sind an den Wänden des alten Kindergartens die Gespenster von Donald Duck, Willy Coyote und den Pokémon im Putz zurückgeblieben.
Am Gittertor zu Block K stehen zwei Einsatzwagen der Polizei. Alles scheint ruhig oder vielleicht nur im Schwebezustand der Erwartung, dass irgendetwas passiert. D’Intrò sagt mir, dass das nachmittägliche Kommen und Gehen der Drogenabhängigen stark nachgelassen hat, doch dass nach acht Uhr abends nicht genug Männer da sind, um den Schutz aufrechtzuerhalten. Jede Nacht entstehen seltsame Palisaden aus Wellblech und Gipspappe, die von den verlassenen Baustellen der Gegend stammen. Wie bewegliche Zäune, die sich einen Straßenabschnitt entlangziehen.
»Wir entdecken sie am Morgen und bauen sie ab, aber am Abend bauen sie sie irgendwo anders wieder auf. Und so geht das weiter.«
Wir machen auf einem Hof halt, der einen an einen Haufen Fußball spielender Jungs denken lässt, die der gesamten Nachbarschaft auf die Nerven gehen. Doch da sind nur zwei kleine Jungen, die lustlos mit dem Ball üben.
Ich folge D’Intrò in den Block K hinein. Er ist auch tagsüber dunkel, hohl wie ein entfleischtes Gerippe. Die Wirbel aus Stahl halten Treppenkreuzungen mit von Bränden geschwärzten Geländern, die Treppenabsätze sind mit Pappe und Drahtnetzen geflickt. Ich höre das Echo eines weinenden
Kindes, stelle mir vor, dass sich zum metallischen Brummen eines Transistorradios jemand rasiert oder eine Soße kocht. Dieser graue Nachmittag ist nur ein verlängerter Vormittag, der langsam und sinnlos vergeht, bis es dunkel wird.
Unsere Kollegen stehen alle um eine einzige Garage herum. Drei oder vier sind in Zivil, zwei weitere haben kugelsichere Westen an und eine M12 umhängen.
Die Blicke, die sie mit D’Intrò wechseln, scheinen mir nichts Gutes zu verheißen.
Es ist ein warmer Gestank wie in einer Höhle.
Doch ich muss ihn einatmen, um mich davon zu überzeugen, dass alles wahr ist.
Das Raubtier ist tot, auch wenn es zu hässlich und plump scheint, um je wirklich lebendig gewesen zu sein. Sie haben es an eine Wand geschleudert, neben eine umgekippte Couch, die von tiefschwarzem Blut und gelbem Geifer
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