Camus, Albert
Aber es hat keine andere Vernunftgrundlage als eine Petitio principii, die in die Geschichte, ein Reich, das einzig und sich selbst genügend sein sollte, einen geschichtsfremden Wert einführt. Da dieser Wert gleichzeitig auch der Moral fremd ist, ist er nicht eigentlich ein Wert, der unser Verhalten bestimmt, sondern ein Dogma ohne Grundlage, das man sich zu eigen machen kann in der Verzweiflung eines Denkens, das in Einsamkeit oder Nihilismus erstickt oder das einem von denen aufgezwungen wird, die von ihmprofitieren. Das Ende der Geschichte ist kein Wert des Vorbilds und der Vervollkommnung. Es ist ein Prinzip der Willkür und des Terrors.
Marx anerkannte, dass alle Revolutionen vor ihm gescheitert waren. Er aber behauptete, dass die von ihm angekündigte Revolution endgültig gelingen müsse. Die Arbeiterbewegung hat bisher von dieser Behauptung gelebt, welche die Tatsachen unausgesetzt widerlegt haben und deren Lüge aufzudecken an der Zeit ist. In dem Maß, in dem die Wiederkunft entschwand, wurde die Versicherung des Endreichs, in ihren Vernunftgründen geschwächt, zum Glaubensartikel. Der einzige Wert der marxistischen Welt besteht künftig trotz Marx im Dogma, das einem ganzen ideologischen Weltreich auferlegt wurde. Das Endreich wird wie die ewige Moral und das Himmelreich zum Zweck einer sozialen Nasführung verwendet. Elie Halévy erklärt sich außerstande zu sagen, ob der Sozialismus zu einer verallgemeinerten schweizerischen Republik oder zum europäischen Cäsarismus führen werde. Wir sind fortan besser unterrichtet. Nietzsches Prophezeiungen sind in diesem Punkt wenigstens gerechtfertigt. Der Marxismus wird künftig, gegen sich selbst und durch eine unvermeidliche Logik, durch den intellektuellen Cäsarismus veranschaulicht, den wir nun darstellen müssen. Der letzte Vertreter des Kampfs der Gerechtigkeit gegen die Gnade, übernimmt er, ohne es zu wollen, den Kampf der Gerechtigkeit gegen die Wahrheit. Wie soll man ohne Gnade leben, diese Frage beherrscht das 19. Jahrhundert. «Durch die Gerechtigkeit», antworteten alle, welche den absoluten Nihilismus nicht annehmen wollten. Den Völkern, die am Himmelreich verzweifelten, verhießen sie das Reich des Menschen. Die Voraussage des Menschenstaates wurde immer eindringlicher bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wo sie wahrhaft visionär wurde und die Gewissheiten der Wissenschaftin den Dienst der Utopie stellte. Aber das Reich entrückte, gewaltige Kriege haben die älteste der Erden verwüstet, das Blut der Rebellen hat die Mauern der Städte bedeckt, und die totale Gerechtigkeit kam nicht näher. Die Frage des 20. Jahrhunderts, die die Welt der Gegenwart erschüttert, hat sich nach und nach verdeutlicht: wie leben ohne Gnade und ohne Gerechtigkeit?
Diese Frage hat nur der Nihilismus, nicht die Revolte beantwortet. Er allein hat bis jetzt gesprochen und dabei die Formel der romantischen Revoltierenden wiederaufgenommen: «Raserei». Die geschichtliche Raserei heißt Macht. Der Wille zur Macht hat den Willen zur Gerechtigkeit abgelöst, indem er zuerst dergleichen tat, sich mit ihm zu identifizieren, und ihn dann irgendwo ans Ende der Geschichte verwies, so lange, bis auf Erden nichts mehr zu beherrschen sein wird. Die ideologische Konsequenz hat somit über die wirtschaftliche obsiegt: Die Geschichte des russischen Kommunismus straft seine Prinzipien Lügen. Wir finden am Ende dieses langen Weges die metaphysische Revolte, die diesmal im Tumult der Waffen und Befehle voranschreitet; uneingedenk ihrer wahren Prinzipien, vergräbt sie ihre Einsamkeit inmitten bewaffneter Massen, bemäntelt ihre Verneinungen mit einer engstirnigen Scholastik, der Zukunft noch zugewandt, aus der sie ihren einzigen Gott macht, von ihr jedoch durch eine Menge niederzuschlagender Völker und Kontinente getrennt. Mit der Tat als einzigem Prinzip, dem Reich des Menschen als Alibi, hat sie schon begonnen, sich im Osten Europas in ihrer Festung zu verschanzen, Front gegen andere Festungen.
Das Reich der Endziele
Marx hatte sich nicht eine so erschreckende Apotheose vorgestellt. Auch Lenin nicht, der indessen einen entscheidenden Schritt zum Militärstaat tat. Ein ebenso guter Stratege wie mittelmäßiger Philosoph, stellte er sich zuerst die Frage nach der Machtergreifung. Halten wir jedoch gleich fest, dass von seinem Jacobinismus zu sprechen, wie man es getan hat, völlig verfehlt ist. Nur seine Idee von einer Fraktion der Agitatoren und Revolutionäre ist jakobinisch.
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