Camus, Albert
zugehören. Die Brotkarte anstelle des Brots, die Unterwerfung von Freundschaft und Liebe unter die Doktrin, vom Schicksal unter den Plan, die Umbenennung der Strafe in Norm und der Ersatz der lebendigen Schöpfung durch die Produktion charakterisierten recht gut dieses entfleischte Europa, bevölkert von siegreichen oder geknechteten Phantomen der Macht. «Wie elend ist doch eine Gesellschaft», rief Marx aus, «die kein besseres Mittel der Verteidigung kennt als den Henker!» Aber der Henker war noch nicht der philosophische Henker und hatte wenigstens noch keine Ansprüche auf die universale Philanthropie.
Der höchste Widerspruch der größten Revolution, die die Geschichte gekannt hat, besteht letzten Endes nicht so sehr in ihrem Anspruch auf die Gerechtigkeit durch eine ununterbrochene Reihe von Ungerechtigkeiten und Gewalttaten hindurch. Knechtschaft oder Mystifikation, dieses Unglück gab es zu allen Zeiten. Ihre Tragödie ist die des Nihilismus, die mit dem Drama der zeitgenössischen Intelligenz zusammenfällt, die, ins Allgemeine strebend, die Verstümmelungen des Menschen vervielfacht. Die Totalität ist nicht die Einheit. Der Belagerungszustand ist, selbst bis an die Grenzen der Welt ausgedehnt, nicht ihre Versöhnung. Die Forderung nach dem universalen Staat erhält sich in dieser Revolution nur dadurch, dass sie zwei Drittel der Welt und das gewaltige Erbe der Jahrhunderte verwirft, dass sie zugunsten der Geschichte Natur und Schönheit leugnet und den Menschen von seiner Kraft der Leidenschaft, des Zweifels, des Glücks und der Erfindung, mit einem Wort: von seiner Größe abtrennt. DiePrinzipien, die die Menschen über sich selbst aufstellen, gewinnen schließlich den Vorrang über ihre edelsten Absichten. Durch unaufhörliche Kämpfe, Polemiken, Exkommunikationen, erlittene und angetane Verfolgungen treibt der Universalstaat freier und brüderlicher Menschen allmählich ab und überlässt seinen Platz der einzigen Welt, in der die Geschichte und die Wirksamkeit in der Tat als oberste Richter eingesetzt werden können: der Welt des Prozesses.
Jede Religion kreist um die Begriffe von Schuld und Unschuld. Prometheus, der erste Rebell, erklärt indessen das Recht des Strafens für unstatthaft. Selbst Zeus, er vor allem, ist nicht unschuldig genug, um dieses Recht zu erhalten. In ihrer ersten Bewegung spricht daher die Revolte der Strafe ihre Rechtmäßigkeit ab. Aber in seiner letzten Verkörperung, am Ende seines erschöpfenden Weges, nimmt der Revoltierende den religiösen Begriff der Strafe wieder auf und stellt ihn in den Mittelpunkt seiner Welt. Der Oberste Richter ist nicht mehr im Himmel, er ist die Geschichte selbst, die als unerbittliche Gottheit straft. Auf ihre Weise ist die Geschichte nur eine lange Strafe, da ja die wahre Belohnung erst am Ende der Zeiten genossen wird. Wir sind scheinbar weit entfernt von Hegel und vom Marxismus, noch viel weiter von den ersten Rebellen. Alles rein geschichtliche Denken steht jedoch vor diesen Abgründen. Insofern Marx die unausweichliche Erfüllung des klassenlosen Staates voraussagte, insofern er also den guten Willen der Geschichte darlegte, muss jede Verzögerung auf dem befreienden Weg dem schlechten Willen des Menschen zugeschrieben werden. Marx führte in die entchristlichte Welt die Sünde und die Strafe, diesmal jedoch der Geschichte gegenüber, wieder ein. Der Marxismus ist unter einem seiner Aspekte eine Lehre der Schuld, was den Mensch anlangt, der Unschuld, was die Geschichte anlangt. Fern von der Macht war sein historischerAusdruck die revolutionäre Gewalt, auf dem Höhepunkt unterlag sie der Gefahr, gesetzliche Gewalt zu werden, d. h. Terror und Prozess.
In der Welt des Religiösen wird übrigens das wahre Gericht auf später verschoben; die unverzügliche Bestrafung des Verbrechens und Heiligung der Unschuld ist nicht notwendig. In der neuen Welt muss hingegen das Urteil sogleich von der Geschichte gefällt werden, denn Schuld ist gleichbedeutend mit Misserfolg und Strafe. Die Geschichte richtete Bucharin, weil sie ihn sterben ließ. Sie verkündete die Unschuld Stalins: Er steht auf dem Gipfelpunkt der Macht. Titos Prozess ist hängig, wie es derjenige Trotzkijs war, dessen Schuld für die Philosophen des geschichtlichen Verbrechens erst von da an klar war, als der Hammer des Mörders auf ihn niederfiel. Ebenso Tito, von dem wir nicht wissen, wie man uns sagt, ob er schuldig ist oder nicht. Er ist angeprangert, noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher