Camus, Albert
Bastille. Die absolute Revolte vergräbt sich mit ihm in einer schmutzigen Festung, aus der niemand, weder Verfolgte noch Verfolger, herauskommt. Um seine Freiheit zu gründen, ist er gezwungen, die absolute Notwendigkeit einzurichten. Die unbegrenzte Freiheit der Begierde bedeutet die Verneinung der andern und die Unterdrückung des Mitleids. Das Herz, diese ‹Schwäche des Geistes›, muss getötet werden; der abgeschlossene Platz und die Satzung werden dafür sorgen. Die Satzung, die in Sades sagenhaften Schlössern eine Hauptrolle spielt, bestätigt eine Welt des Misstrauens. Sie hilft, alles vorauszusehen, damit keine Zärtlichkeit oder unvorhergesehenes Mitleid die Pläne des Vergnügensstören. Seltsames Vergnügen, ohne Zweifel, das exakt anbefohlen wird: «Es wird jeden Morgen um 10 Uhr aufgestanden!» Aber es gilt zu verhindern, dass die Lust in Anhänglichkeit degeneriert; man muss sie einklammern und hart machen. Es ist auch unerlässlich, dass die Gegenstände der Lust nie als Personen erscheinen. Wenn der Mensch eine ‹völlig materielle Pflanzenart› ist, kann er nur als Gegenstand zum Experimentieren behandelt werden. In Sades Stacheldraht-Republik gibt es nur Mechanismen und Mechaniker. Die Satzung, Gebrauchsanweisung für den Mechanismus, weist allem seinen Platz zu. Diese schändlichen Klöster haben ihre Ordensregel bezeichnenderweise denjenigen der religiösen Gemeinschaften nachgebildet. Der Freigeist soll sich also der öffentlichen Beichte unterziehen. Aber das Vorzeichen wechselt: «Wenn sein Verhalten rein ist, wird er getadelt.» Sade baut so, seiner Zeit entsprechend, ideale Gesellschaften. Aber im Gegensatz zu seiner Zeit, verbucht er die naturgegebene Schlechtigkeit des Menschen im Gesetz. Er erbaut peinlich genau die Stadt der Macht und des Hasses, als Vorläufer, der er ist, und setzt sogar die Freiheit, die er gewonnen hat, in Zahlen an. Er fasst so seine Philosophie in einer kalten Buchführung des Verbrechens zusammen: «Vor dem 1. März umgebracht: 10. Seit dem 1. März: 20. Abgänge: 16. Total: 46.» Vorläufer ohne Zweifel, aber, wie man sieht, noch ein bescheidener.
Wäre das alles, so verdiente Sade nicht mehr Beachtung als die verkannten Vorläufer. Aber die Ziehbrücke einmal hochgezogen, muss man im Schloss leben. So präzis auch die Satzung ist, sie vermag nicht alles vorauszusehen. Sie kann zerstören, nicht erschaffen. Die Herren dieser Martergemeinschaft finden in ihr nicht die Befriedigung, die sie begehrten. Sade ruft oft die ‹süße Gewohnheit des Verbrechens› herauf. Hier jedoch gleicht nichts der Süße, sonderneher der Wut von Menschen in Ketten. Es handelt sich in der Tat um den Genuss, und das Maximum an Genuss fällt mit dem Maximum an Zerstörung zusammen. Besitzen, was man tötet, sich mit dem Leid paaren, das ist der Augenblick der totalen Freiheit, auf den hin sich die ganze Organisation der Schlösser ausrichtet. Aber sobald das Sexualverbrechen den Gegenstand der Wollust vernichtet, vernichtet es die Wollust, die nur gerade im Augenblick der Vernichtung besteht. Darauf muss man sich ein neues Objekt unterwerfen und es abermals töten, ein weiteres und nach ihm die Unendlichkeit aller möglichen Objekte. So erhält man jene trübsinnigen Anhäufungen erotischer und verbrecherischer Szenen in Sades Romanen, deren wandelloses Gesicht im Leser paradoxerweise die Erinnerung an eine scheußliche Keuschheit zurücklässt.
Was sollte in dieser Welt die Lust, diese große blühende Freude der zustimmenden und einhelligen Leiber? Es handelt sich um ein aussichtsloses Unterfangen, der Verzweiflung zu entkommen, und das doch in Verzweiflung endet, um einen Lauf von der Knechtschaft zur Knechtschaft und vom Gefängnis zum Gefängnis.
Wenn die Natur allein wahr ist, wenn in der Natur allein die Begierde und die Zerstörung berechtigt sind, dann muss man, da die Herrschaft des Menschen selbst den Blutdurst nicht mehr stillt, von Zerstörung zu Zerstörung eilen, bis zur allgemeinen Vernichtung. Man muss, mit Sades Worten, zum Henker der Natur werden. Aber gerade das gelingt nicht so leicht. Wenn die Buchführung abgeschlossen ist, wenn alle Opfer umgebracht sind, bleiben die Henker miteinander allein im vereinsamten Schloss. Etwas fehlt ihnen noch. Die gemarterten Leiber kehren durch ihre Grundstoffe zur Natur zurück, von wo neues Leben wiedererstehen wird. Selbst der Mord ist nicht vollendet: «Der Mord raubt dem Menschen,den wir töten, nur das erste Leben,
Weitere Kostenlose Bücher