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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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also nie das unsterbliche Leben empfangen. Unter diesen Umständen würde Iwan das ewige Leben, selbst wenn es bestünde, zurückweisen. Er stößt diesen Handel zurück. Er würde die Gnade nur ohne Bedingungen annehmen, aus diesem Grund stellt er selbst seine Bedingungen. Die Revolte will alles, oder sie will nichts. «Alle Wissenschaft der Welt wiegt nicht die Tränen der Kinder auf.» Iwan sagt nicht, es gäbe keine Wahrheit. Er sagt, dass, wenn es sie gäbe, sie nur unannehmbar sein kann. Warum? Weil sie ungerecht ist. Zum ersten Mal ist hier der Kampf zwischen der Wahrheit und der Gerechtigkeit eröffnet; er wird keinen Abbruch mehr haben. Einsam, d. h. Moralist, wird Iwan sich mit einer Art metaphysischer Donquijoterie begnügen. Aber einige Jahrzehnte noch, und eine gewaltige politische Verschwörung wird darauf abzielen, aus der Gerechtigkeit die Wahrheit zu machen.
    Überdies verkörpert Iwan die Weigerung, allein erlöst zu werden. Er erklärt sich mit den Verdammten solidarisch und weist ihretwegen den Himmel zurück. In der Tat, wäre er gläubig, so könnte er erlöst werden, aber andere würden an seiner Stelle verdammt werden. Das Leid würde andauern. Wer voll wahren Mitleids ist, für den ist kein Heil möglich. Iwan fährt fort, Gott ins Unrecht zu setzen, indem er denGlauben zweifach verweigert, wie man die Ungerechtigkeit und das Privileg dazu verwirft. Einen Schritt weiter, und vom
Alles oder nichts
gehen wir über zum
Alle oder keiner.
    Dieser extreme Entschluss samt der Haltung, die er voraussetzt, hätte den Romantikern genügt. Aber Iwan 19 lebt, obwohl auch dem Dandytum nachgebend, seine Probleme in voller Wirklichkeit, schwankend zwischen ja und nein. Von diesem Augenblick an tritt er in die Konsequenz ein. Was bleibt ihm, wenn er die Unsterblichkeit verwehrt? Das Leben mit allem seinem Elementaren. Ist der Sinn des Lebens ausgestrichen, bleibt immer noch das Leben. «Ich lebe», sagt Iwan, «der Logik zum Trotz.» Und weiter: «Wenn ich keinen Glauben mehr an das Leben hätte, wenn ich an einer geliebten Frau zweifelte, oder an der Weltordnung, und im Gegenteil davon überzeugt wäre, dass alles nur ein höllisches und fluchwürdiges Chaos ist – selbst dann möchte ich trotzdem leben.» Iwan lebt also und liebt auch, «ohne zu wissen, warum». Doch leben heißt auch handeln. In wessen Namen? Wenn es keine Unsterblichkeit gibt, gibt es weder Belohnung noch Strafe, weder Gut noch Böse. «Ich glaube, es gibt keine Tugend ohne Unsterblichkeit.» Ferner: «Ich weiß nur, dass es Leid gibt, dass es keine Schuldigen gibt, dass alles sich miteinander verkettet, dass alles vorübergeht und sich ausgleicht.» Aber es gibt keine Tugend, wie es ebenso wenig ein Gesetz gibt: ‹Alles ist erlaubt›.
    Mit diesem ‹Alles ist erlaubt› beginnt in Wahrheit die Geschichte des zeitgenössischen Nihilismus. Die romantische Revolte ging nicht so weit. Sie beschränkte sich darauf, zu sagen, nicht alles sei erlaubt, aber aus Frechheit gestatte sie sich, was verboten sei. Mit den Karamasows dagegen kehrt dieLogik der Entrüstung die Revolte gegen sich selbst und verstrickt sie in einen hoffnungslosen Widerspruch. Der hauptsächliche Unterschied besteht darin, dass die Romantiker sich Erlaubnis gaben aus Selbstgefälligkeit, während Iwan sich zwingt, aus Folgerichtigkeit das Böse zu tun. Er erlaubt sich nicht, gut zu sein. Der Nihilismus ist nicht nur Verzweiflung und Verneinung, sondern vor allem Wille zum Verzweifeln und Verneinen. Der Gleiche, der so wild die Partei der Unschuld ergriff, der vor dem Schmerz eines Kindes zitterte, der ‹mit eigenen Augen› die Hindin neben dem Löwen schlafen, das Opfer den Mörder küssen sehen wollte, erkennt, sobald er den Zusammenhalt im Göttlichen verwirft und sein eigenes Gesetz zu suchen unternimmt, die Berechtigung zum Mord an. Iwan erhebt sich gegen einen mörderischen Gott, doch vom Augenblick an, da er seinen Aufstand durchdenkt, leitet er daraus das Gesetz des Mordes ab. Wenn alles erlaubt ist, kann er seinen Vater töten, oder zumindest dulden, dass er getötet wird. Auch eine lange Überlegung über unsere Lage als zum Tod Verurteilte endet bloß mit der Rechtfertigung des Verbrechens. Iwan hasst zu gleicher Zeit die Todesstrafe (von einer Hinrichtung erzählend, sagt er grimmig: «Sein Kopf fiel im Namen der göttlichen Gnade») und lässt das Verbrechen im Prinzip zu. Jegliche Nachsicht für den Mörder, keine für den Scharfrichter. Dieser

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