Camus, Albert
Widerspruch, in dem es Sade wohl gefiel, erwürgt im Gegenteil Iwan Karamasow.
Tatsächlich gibt er vor zu denken, als gäbe es die Unsterblichkeit nicht, während er sich doch darauf beschränkt hat, zu erklären, er weise sie zurück, selbst wenn es sie gäbe. Um gegen das Böse und den Tod zu protestieren, behauptet er entschlossen, die Tugend bestehe ebenso wenig wie die Unsterblichkeit, und er lässt seinen Vater töten. Mit vollem Wissen nimmt er sein Dilemma an: tugendhaft und unlogisch zusein oder logisch und verbrecherisch. Ohne Zweifel hat der Teufel recht, wenn er ihm zuflüstert: «Du wirst eine tugendhafte Tat vollbringen, und doch glaubst du nicht an die Tugend; das bringt dich auf und quält dich.» Die Frage, die sich Iwan schließlich stellt und die den tatsächlichen Fortschritt ausdrückt, den Dostojewski auf den Geist der Revolte bewirkte, ist die einzige, die uns hier interessiert: Kann man leben und sich in der Revolte halten?
Iwan lässt seine Antwort erraten: Man kann in der Revolte nur leben, indem man sie bis ans Ende treibt. Was ist das äußerste Ende der metaphysischen Revolte? Die metaphysische Revolution. Der Herr dieser Welt muss, nachdem ihm seine Legitimität abgestritten ist, gestürzt werden. Der Mensch muss seinen Platz einnehmen. «Da Gott und die Unsterblichkeit nicht existieren, ist es dem neuen Menschen erlaubt, Gott zu werden.» Doch was heißt Gott sein? Gerade erkennen, dass alles erlaubt ist, jedes andere Gesetz als sein eigenes zurückweisen. Ohne dass es nötig ist, die ganze Gedankenkette zu entwickeln, bemerkt man somit, dass Gott werden besagt, das Verbrechen gutzuheißen (eine Lieblingsidee infolgedessen der Intellektuellen bei Dostojewski). Iwans persönliches Problem besteht also darin zu wissen, ob er seiner Logik treu sein wird und ob er, der von einem entrüsteten Protest vor dem schuldlosen Schmerz ausging, den Mord seines Vaters mit der Indifferenz der Gott-Menschen billigen wird. Man kennt die Lösung: Iwan lässt den Tod seines Vaters geschehen. Zu tief, um am äußern Schein Genüge zu finden, zu gefühlvoll, um zu handeln, begnügt er sich damit, es geschehen zu lassen. Aber er wird verrückt. Der Mann, der nicht verstand, wie man seinen Nächsten lieben kann, versteht auch nicht, wie man ihn töten kann. Eingekeilt zwischen eine nicht zu rechtfertigende Tugend und ein unannehmbares Verbrechen, von Mitleid verzehrt und zur Liebeunfähig, ein Einsamer, des rettenden Zynismus beraubt, so wird dieser überlegene Kopf vom Widerspruch getötet. «Ich habe», sagt er, «einen irdischen Geist. Wozu verstehen wollen, was nicht von dieser Welt ist?» Allein, er lebte nur für das, was nicht von dieser Welt ist, und dieser Stolz des Absoluten enthob ihn gerade der Erde, an der er nichts liebte.
Dieser Schiffbruch verhindert übrigens nicht, dass die Konsequenz folgen sollte, als das Problem einmal gestellt war: Die Revolte ist von nun an auf dem Weg zur Tat. Diese Bewegung wird schon von Dostojewski mit einer prophetischen Intensität angedeutet in der Legende vom Großinquisitor. Iwan trennt schließlich die Schöpfung nicht vom Schöpfer: «Nicht Gott», sagt er, «stoße ich zurück, sondern die Schöpfung.» Anders gesagt: Gott-Vater, den von seiner Schöpfung Untrennbaren. 20 Sein Plan einer Usurpation bleibt demnach ganz geistig. Er will nichts umformen an der Schöpfung. Doch da die Schöpfung ist, was sie ist, leitet er daraus das Recht ab, sich geistig zu befreien und die andern Menschen mit ihm. Sobald hingegen der Geist der Revolte, das Alles ist erlaubt› und ‹Alle oder keiner› gutheißend, danach strebt, die Schöpfung neu zu machen, um das Reich und die Göttlichkeit der Menschen zu sichern, sobald die metaphysische Revolution sich vom Sittlichen zum Politischen erstrecken wird, beginnt ein neues Unternehmen von unberechenbarer Tragweite, dem gleichen Nihilismus entsprossen. Dostojewski, der Prophet der neuen Religion, hatte es vorausgesehen und angekündigt: «Wenn Aljoscha geschlossen hätte, dass es weder Gott noch Unsterblichkeit gibt, wäre ersofort Atheist und Sozialist geworden. Denn der Sozialismus ist nicht nur die Arbeiterfrage, sondern vor allem die Frage des Atheismus und seiner Verkörperung in der Gegenwart, die Frage nach dem Turm von Babel, der ohne Gott erbaut wird, nicht um von der Erde aus den Himmel zu erreichen, sondern um den Himmel zur Erde niederzuziehen.» 21
Darauf kann Aljoscha tatsächlich voller Rührung Iwan als
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