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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Unbewussten, der Schrei des Irrationalen sind die einzigen reinen Wahrheiten, die man begünstigen muss. Alles, was sich der Begierde in den Weg stellt, allem voran die Gesellschaft, muss ohne Gnade zerstört werden. Nun versteht man Bretons Bemerkung über Sade: «Gewiss will der Mensch sich hier mit der Natur nur im Verbrechen verbinden, es bliebe immer noch die Frage, ob das nicht auch eine derwahnwitzigsten, der undiskutabelsten Arten der Liebe ist.» Man spürt deutlich, dass es sich um Liebe ohne Gegenstand handelt, diejenige also der zerrissenen Seelen. Doch gerade diese leere und gierige Liebe, diesen Besitzrausch hemmt die Gesellschaft unvermeidlicherweise. Aus diesem Grunde konnte Breton, noch heute verlegen wegen dieser Erklärungen, das Lob des Verrats singen und erklären (was die Surrealisten zu beweisen versuchten), die Gewalttat sei die einzig angemessene Ausdrucksweise.
    Aber die Gesellschaft besteht nicht nur aus Personen. Sie ist auch eine Einrichtung. Aus zu gutem Hause, um zu töten, sind die Surrealisten, durch die Logik ihrer Haltung, zur Überzeugung gelangt, dass, um die Begierde zu befreien, man zuerst die Gesellschaft umstürzen müsse. Sie entschlossen sich, der Revolution ihrer Zeit zu dienen. Von Walpole und Sade sind sie folgerichtig, was wir mit unserem Essay zeigen wollen, zu Helvetius und Marx übergegangen. Aber man merkt deutlich, dass nicht das Studium des Marxismus sie zur Revolution geführt hat. 28 Im Gegenteil, die unaufhörliche Bemühung der Surrealisten besteht darin, mit dem Marxismus diejenigen Forderungen in Einklang zu bringen, die sie zur Revolution geführt haben. Es ist kein Paradox, wenn man sagt, dass die Surrealisten aus dem gleichen Grund zum Kommunismus geführt wurden, weswegen sie ihn heute am meisten verabscheuen. Kennt man den Hintergrund und den Adel seiner Forderungen und hat man die gleiche innere Zerrissenheit durchlebt, so zögert man, André Breton ins Gedächtnis zu rufen, dass seine Bewegung diePrinzipien aufgestellt hat für die Einführung einer ‹unnachsichtigen Autorität› und einer Diktatur, für den politischen Fanatismus, die Verweigerung der freien Diskussion und die Notwendigkeit der Todesstrafe. Man staunt auch vor dem befremdlichen Vokabular jener Zeit (‹Sabotage›, ‹Denunziant› usw.), welches dasjenige einer Polizeirevolution ist. Aber diese Fanatiker wollten ‹irgendeine Revolution›, irgendetwas, das sie aus der Welt der Krämer und der Kompromisse herausriss, in welcher sie zu leben gezwungen waren. Konnten sie nicht das Beste haben, so zogen sie immer noch das Schlimmste vor. Insofern waren sie Nihilisten. Sie bemerkten nicht, dass diejenigen unter ihnen, die dem Marxismus fortan treu bleiben sollten, gleichzeitig ihrem ersten Nihilismus treu blieben. Die wahre Zerstörung der Sprache, welche die Surrealisten so beharrlich begrüßt haben, besteht nicht in Zusammenhanglosigkeit oder im Automatismus. Sie besteht vielmehr im Losungswort. Aragon konnte mit einer Anprangerung der ‹entehrenden pragmatischen Haltung› beginnen, in ihr hat er schließlich die völlige Befreiung von der Moral gefunden, auch wenn diese Befreiung mit einer andern Knechtschaft zusammenfällt. Derjenige der Surrealisten, der damals am tiefsten über dies Problem nachdachte, Pierre Naville, fand den Generalnenner der revolutionären und surrealistischen Tat im Pessimismus, d. h. in der ‹Absicht, den Menschen zu seinem Untergang zu begleiten und nichts zu unterlassen, damit dieser Untergang von Nutzen sei›. Diese Mischung von Augustinismus und Machiavellismus charakterisiert in der Tat die Revolution des 20. Jahrhunderts; man kann dem Nihilismus unserer Zeit keinen kühneren Ausdruck verleihen. Die Renegaten des Surrealismus blieben dem Nihilismus in der Mehrzahl seiner Grundsätze treu. In gewisser Weise wollten sie sterben. Wenn André Breton und einige andere schließlich mit dem Marxismus gebrochenhaben, so deshalb, weil sie in sich noch etwas mehr als den Nihilismus haben, eine zweite Treue zum Reinsten in den Ursprüngen der Revolte: Sie wollten nicht sterben.
    Gewiss wollten die Surrealisten den Materialismus verkünden. «Am Ursprung der Revolte des ‹Panzerkreuzers Potemkin› erkennen wir mit Vergnügen jenes schreckliche Stück Fleisch.» Doch gibt es bei ihnen, im Unterschied zu den Marxisten, keine Liebe, auch keine intellektuelle, zu diesem Stück Fleisch. Das Aas stellt bloß die reale Welt dar, welche in der Tat die Revolte

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