Camus, Albert
transzendenten Werte. Als er 1848 stirbt, ist sein Denken demjenigen Herzens sehr nahe. In seiner Konfrontation mit Hegel jedoch nimmt er genau die Haltung ein, welche später die der Nihilisten sein wird und teilweise zumindest auch der Terroristen. Er stellt so einen Übergangstyp dar zwischen den idealistischen Grandseigneurs von 1825 und den nihilistischen Studenten von 1860.
Drei Besessene
Als Herzen, die nihilistische Bewegung verteidigend, freilich nur insoweit, als er darin eine größere Ablösung von eingefahrenen Vorstellungen erblickte, ausruft: «Die Vernichtung des Alten ist gleich der Zeugung der Zukunft», übernimmt er die Sprache Belinskijs. Kotliarevskij sprach von denen, die man auch Radikale nannte, und bezeichnete sie als Apostel, «die dachten, man müsse vollständig auf die Vergangenheit verzichten und nach einem anderen Typ die menschliche Persönlichkeit schmieden». Die Forderung Stirners taucht wieder auf mit der Verwerfung jeder Geschichte und dem Entschluss, die Zukunft nicht mehr im Hinblick auf den Geist der Geschichte, sondern auf den königlichen Einzelmenschen zu schmieden. Aber dieser königliche Einzelne kann sich nicht allein zur Macht aufschwingen. Er braucht die andern und tritt damit in den nihilistischen Widerspruch, den Pisarew, Bakunin und Netschajew zu lösen versuchen, indem jeder das Feld der Zerstörung und Verneinung ein bisschen mehr ausweitet, bis der Terrorismus den Widerspruch selbst beseitigt im Opfer, das zugleich Mord ist.
Der Nihilismus der sechziger Jahre begann dem Anschein nach mit der radikalsten Verneinung, die sich denken lässt: Er verwarf jede Handlung, die nicht rein egoistisch war. Es ist bekannt, dass das Wort Nihilismus von Turgenjew in seinem Roman ‹Väter und Söhne› geprägt wurde, dessen Held Basarow ein Abbild dieses Menschentyps darstellt. Pisarew verkündete in einer Besprechung des Romans, dass die Nihilisten Basarow als ihr Vorbild anerkennen. «Wir haben», sagte Basarow, «uns nur des fruchtlosen Bewusstseins zu rühmen, bis zu einem gewissen Punkt die Sterilität dessen zu verstehen, was ist.» Nennt man das Nihilismus, fragt man ihn. «Das nennt man Nihilismus.» Pisarew rühmt diesesVorbild, das er zur größeren Klarheit so charakterisiert: «Ich bin ein Fremder vor der Ordnung des Bestehenden, ich habe mich nicht hineinzumischen.» Der einzige Wert ruht also im rationalen Egoismus.
Indem er alles verneint, was nicht Selbstbefriedigung ist, erklärt Pisarew der Philosophie den Krieg, ebenso der Kunst, die er als absurd bewertet, der lügnerischen Moral, der Religion, ja selbst den Bräuchen und der Höflichkeit. Er stellt die Theorie eines intellektuellen Terrorismus auf, die an die unserer Surrealisten gemahnt. Die Provokation wird zu einem Lehrsatz gemacht, gewinnt aber eine Tiefe, von der Raskolnikow eine richtige Vorstellung gibt. Auf dem Gipfelpunkt dieses schönen Gedankenschwungs stellt Pisarew, ohne zu lachen, die Frage, ob man seine Mutter töten könne, und antwortet: «Warum nicht, wenn ich es wünsche und nützlich finde?»
Von dem Punkt an wundert man sich, unsere Nihilisten nicht damit beschäftigt zu sehen, ein Vermögen zu machen oder einen Rang zu gewinnen und zynisch alles, was sich bietet, zu genießen. In Wahrheit fehlt es in den oberen Rängen jeder Gesellschaft nicht an Nihilisten. Aber sie machen aus ihrem Zynismus keine Theorie und ziehen es vor, bei allen Gelegenheiten der Tugend ein sichtbares, aber folgenloses Lob zu spenden. Was die betrifft, um die es sich hier handelt, so widersprachen sie sich in der Herausforderung an die Gesellschaft, denn diese war an sich die Bejahung eines Wertes. Sie nannten sich Materialisten, ihr Lieblingsbuch war Büchners ‹Kraft und Stoff›. Doch einer von ihnen gestand: «Jeder von uns ist bereit, zum Galgen zu gehen und seinen Kopf hinzugeben für Moleschott und Darwin», und stellte somit die Doktrin wesentlich höher als den Stoff. Die Doktrin hatte auf dieser Stufe einen Anstrich von Religion und Fanatismus. Für Pisarew war Lamarck ein Verräter, weil Darwinrecht hatte. Wer immer in diesem Kreis es unternahm, von der Unsterblichkeit der Seele zu sprechen, war in Bann getan. Wladimir Weidlé 56 hat mit Recht den Nihilismus als einen rationalistischen Obskurantismus definiert. Die Vernunft verleibt sich bei ihnen merkwürdigerweise die Vorurteile des Glaubens ein; nicht der geringste Widerspruch dieser Individualisten war es, als Typus der Vernunft den
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