Camus, Albert
gewöhnlichsten Wissenschaftsglauben zu wählen. Sie leugneten alles, ausgenommen die anfechtbarsten Werte, diejenigen von Monsieur Homais 57 :
Dadurch jedoch, dass sie aus der plattesten Vernunft einen Glaubensartikel machten, gaben die Nihilisten ihren Nachfolgern ein Vorbild. Sie glaubten an nichts als an die Vernunft und das persönliche Interesse. Aber statt des Skeptizismus wählen sie das Apostelamt und werden Sozialisten. Da liegt ihr Widerspruch. Wie alle jugendlichen Geister empfanden sie zugleich den Zweifel und das Bedürfnis, zu glauben. Ihre persönliche Lösung besteht darin, ihrer Verneinung die Unnachgiebigkeit und die Leidenschaft des Glaubens zu verleihen. Was ist daran so verwunderlich? Weidlé zitiert den verachtungsvollen Satz des Philosophen Solowiew, der diesen Widerspruch aufdeckt: «Der Mensch stammt vom Affen ab, also lasset uns einander lieben.» Pisarews Wahrheit liegt indes gerade in dieser Zerrissenheit. Wenn der Mensch die Spiegelung Gottes ist, ist es unerheblich, dass er der menschlichen Liebe beraubt ist; ein Tag wird kommen, an dem er gesättigt sein wird. Ist er jedoch ein blindes Geschöpf, das in der Finsternis eines grausamen und beschränkten Lebens irrt, bedarf er seinesgleichen und ihrer vergänglichen Liebe.Wohin kann sich denn schließlich die Wohltätigkeit flüchten, wenn nicht in die Welt ohne Gott? In der andern sorgt die Gnade für alles, selbst für die Versorgten. Die alles verneinen, verstehen zumindest das eine, dass die Verneinung ein Elend ist. Sie können sich dann dem Elend des Nächsten öffnen und endlich sich selbst verneinen. Pisarew wich in Gedanken vor dem Muttermord nicht zurück und fand doch die richtigen Worte, um von der Ungerechtigkeit zu sprechen. Er wollte egoistisch das Leben genießen, aber er hat Gefängnisstrafen erlitten und wurde darauf verrückt. So viel zur Schau getragener Zynismus führte ihn am Schluss dazu, die Liebe kennenzulernen, von ihr ausgeschlossen zu sein und bis zum Selbstmord daran zu leiden; so fand er anstelle des königlichen Einzelnen, den er formen wollte, den alten elenden und leidenden Menschen wieder, dessen Größe allein die Geschichte erleuchtet. Bakunin verkörpert auf noch spektakulärere Weise die gleichen Widersprüche. Er stirbt am Vorabend der terroristischen Epopöe (1876). Im Übrigen hat er die Einzelattentate im Voraus desavouiert und die ‹Brutusse seiner Zeit› angeprangert. Er achtete sie jedoch, da er ja Herzen tadelte, das misslungene Attentat Karakosows, der 1866 auf Zar Alexander II. geschossen hatte, öffentlich kritisiert zu haben. Diese Achtung hatte ihre Gründe. Bakunin hat, wie Belinskij und die Nihilisten, den Lauf der Ereignisse in die Richtung der individuellen Revolte gedrängt. Aber er steuert noch etwas mehr bei: einen Keim politischen Zynismus, der sich bei Netschajew zu einer starren Doktrin auswachsen und die revolutionäre Bewegung zum Äußersten treiben wird.
Kaum dem Jünglingsalter entwachsen, wird Bakunin von der Hegel’schen Philosophie erschüttert, entwurzelt, wie durch einen ungeheuren Erdstoß. Tag und Nacht, ‹bis zum Wahnsinn›, vertieft er sich in sie. «Ich sah nichts anderes alsdie Kategorien Hegels.» Wie jeder Neophyt entsteigt er dieser Einweihung mit der Begeisterung im Herzen. «Mein persönliches Ich ist tot für immer, mein Leben ist das wahre Leben. Es hat sich gleichsam mit dem absoluten Leben identifiziert.» Er braucht nicht lange, um der Gefahren dieser bequemen Lage gewahr zu werden. Wer die Wirklichkeit verstanden hat, lehnt sich nicht gegen sie auf, sondern erfreut sich ihrer; somit ist er nun Konformist. Nichts bestimmte Bakunin zu dieser Wachhundphilosophie voraus. Es ist auch möglich, dass seine Reise nach Deutschland und die schlechte Meinung, die er von den Deutschen gewann, ihn übel vorbereitet hatten, mit dem alten Hegel zuzugeben, dass der preußische Staat der privilegierte Verwalter der Ziele des Geistes sei. Russischer als der Zar selbst trotz seiner universalistischen Träume, konnte er jedenfalls die Verherrlichung Preußens nicht unterschreiben, wenn sie auf einer so hochfahrenden Logik begründet war, zu behaupten: «Der Wille der andern Völker hat kein Recht, denn das Volk, das diesen Willen (des Geistes) vertritt, beherrscht die Welt.» In den vierziger Jahren anderseits entdeckte Bakunin den französischen Sozialismus und Anarchismus, von denen er einige Gedanken weitertrug. Wie dem auch sei, verwirft Bakunin mit Nachdruck
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