Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
Vom Netzwerk:
wurde anfangs als die Offenbarung selbst aufgenommen, gefeiert und kommentiert wie nie. Ein Rausch der Philosophie erfüllte die besten Geister. Man ging so weit, Hegels ‹Logik› in Verse zu setzen. Der größte Teil der russischen Intellektuellen leitete zuerst von Hegels System die Rechtfertigung eines sozialen Quietismus ab. Der Vernünftigkeit der Welt sich bewusst zu werden, genügte; der Geist würde sich auf alle Fälle erst am Ende der Geschichte verwirklichen. Das ist die erste Reaktion von Stankewitsch 54 , von Bakunin und Belinskij. Darauf wich jedoch die russische Leidenschaft vor dieser faktischen, wenn nicht gar absichtlichen Komplizität mit dem Absolutismus zurück und warf sich sogleich aufs andere Extrem.
    Nichts ist in dieser Hinsicht aufschlussreicher als die Entwicklung Belinskijs, eines der bemerkenswertesten und einflussreichsten Geister der dreißiger und vierziger Jahre. Ausgehend von einem ziemlich vagen freiheitlichen Idealismus stößt Belinskij plötzlich auf Hegel. Unter dem Schock der Offenbarung bricht er um Mitternacht in seinem Zimmer in Tränen aus und streift mit einer einzigen Bewegung den alten Menschen ab: «Es gibt keine Willkür und keinen Zufall, ich sage den Franzosen adieu.» Gleichzeitig jedoch ist er konservativ und vertritt den sozialen Quietismus. Ohne zu zögern, schreibt er es hin, er verteidigt tapfer seine Haltung, wie er sie auffasst. Aber dieses großmütige Herz sieht sich nun aufseiten dessen stehen, das er am meisten verabscheut hat aufdieser Welt: der Ungerechtigkeit. Ist alles logisch, so ist alles gerechtfertigt. Man muss zur Peitsche, zur Leibeigenschaft und zu Sibirien ja oder nein sagen. Die Welt und ihre Leiden annehmen, schien ihm einen Augenblick der Standpunkt der Größe zu sein, da er nur daran dachte, seine eigenen Leiden und ihre Widersprüche zu ertragen. Aber wenn es auch darum geht, zu den Leiden der andern ja zu sagen, mangelt ihm plötzlich das Herz. Er schlägt die entgegengesetzte Richtung ein. Wenn man das Leiden der andern nicht hinnehmen kann, ist etwas auf der Welt nicht gerechtfertigt, und mindestens in einem Punkt stimmt die Geschichte mit der Vernunft nicht überein. Aber sie muss ganz und gar vernünftig sein, sonst ist sie es überhaupt nicht. Der einsame Protest des Menschen, der eine Zeitlang von der Vorstellung, dass alles gerechtfertigt werden könne, beschwichtigt war, bricht von neuem mit heftigen Worten aus: «Mit aller Ehrerbietung, die Ihrer philiströsen Philosophie gebührt, habe ich die Ehre, Sie wissen zu lassen, dass, wenn ich das Glück habe, auf die höchste Stufe der Entwicklungsleiter zu steigen, ich von Ihnen Rechenschaft verlangen werde für alle Opfer des Lebens und der Geschichte. Ich will kein Glück, auch nicht umsonst, wenn ich nicht für alle meine Blutsbrüder unbesorgt sein kann.» 55
    Belinskij hat begriffen, dass das, was er begehrte, nicht das Absolute der Vernunft war, sondern die Fülle des Seins. Er weigert sich, sie einander gleichzusetzen. Er will die Unsterblichkeit des ganzen Menschen, vortretend als lebende Person, nicht die abstrakte Unsterblichkeit der Geist gewordenen Gattung. Mit gleicher Leidenschaft ficht er gegen neue Gegner und zieht aus dieser großen inneren Auseinandersetzung Schlussfolgerungen, die er Hegel verdankt, aber gegen ihn kehrt.
    Diese Folgerungen sind diejenigen des rebellierenden Individualismus. Das Individuum kann die Geschichte, wie sie abläuft, nicht hinnehmen. Es muss die Wirklichkeit zerstören, um zu bestätigen, was es ist, nicht aber mit ihr zusammenarbeiten. Die Verneinung ist mein Gott, wie zuvor die Wirklichkeit. Meine Helden sind Zerstörer des Alten: Luther, Voltaire, die Enzyklopädisten, die Terroristen, Byron im ‹Cain›.» So finden wir auf einen Schlag alle Themen der metaphysischen Revolte. Gewiss blieb die französische Tradition des individualistischen Sozialismus immer lebendig in Russland. Saint-Simon und Fourier, die in den dreißiger Jahren gelesen werden, Proudhon, der in den vierziger Jahren eingeführt wird, inspirieren die großen Gedanken Herzens und noch viel später diejenigen Peter Lavrows. Aber dies Denken, das den ethischen Werten verhaftet geblieben, unterlag schließlich, wenigstens vorübergehend, im großen Widerstreit mit dem zynischen Denken. Belinskij findet dagegen mit und gegen Hegel die gleichen Tendenzen des sozialen Individualismus wieder, aber unter dem Gesichtspunkt der Verneinung, der Ablehnung aller

Weitere Kostenlose Bücher