Camus, Albert

die Ablösung in der großen Emanzipationsbewegung des Menschen, um ihr ein konvulsivisches Antlitz zu geben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren diese Abiturienten nicht mehr als einige Tausende. Sie allein jedoch, dem kompaktesten Absolutismus der Zeit gegenüber, strebten danach und haben in der Tat vorübergehend dazu beigetragen, vierzig Millionen Muschiks zu befreien. Fast alle von ihnen haben diese Freiheit mit dem Selbstmord, der Hinrichtung, dem Straflager oder dem Wahnsinn bezahlt. Die ganze Geschichte des russischen Terrorismus kann man zusammenfassen im Kampf einer Handvoll Intellektueller gegen die Tyrannei in Gegenwart des schweigenden Volkes. Ihr aufreibender Sieg wurde zuletzt verraten. Aber durch ihr Opfer, bis in ihre äußersten Verneinungen hinein, gaben sie einem Wert oder einer neuen Tugend Gestalt, die heute noch derTyrannei die Stirn bietet und bei der wahren Befreiung mithilft.
    Die Germanisierung Russlands im 19. Jahrhundert ist kein vereinzeltes Phänomen. Der Einfluss der deutschen Ideologie überwog zu jener Zeit; man weiß z. B., dass das 19. Jahrhundert in Frankreich mit Michelet und Quinet dasjenige der germanistischen Studien ist. Diese Ideologie fand jedoch in Russland noch kein gefestigtes Denken, während sie in Frankreich mit dem freiheitlichen Sozialismus kämpfen und sich ausgleichen musste. In Russland war sie in einem eroberten Land. Die erste russische Universität, 1750 in Moskau gegründet, ist deutsch. Die langsame Kolonisierung Russlands durch deutsche Erzieher, Beamte und Soldaten, die unter Peter dem Großen begonnen hatte, wandelt sich durch die Bestrebungen Nikolaus’ I. in eine systematische Germanisierung um. Die Intelligenzija begeistert sich für Schelling und gleichzeitig für die Franzosen in den dreißiger Jahren, für Hegel in den vierziger Jahren und in der zweiten Jahrhunderthälfte für den aus Hegel hervorgegangenen deutschen Sozialismus. 53 Die russische Jugend erfüllt jene abstrakten Gedanken mit der Kraft ihrer maßlosen Leidenschaft und lebt in Tat und Wahrheit jene toten Ideen. Die Religion des Menschen, in Formeln eingefangen von ihren deutschen Doktoren, ermangelte noch der Apostel und Märtyrer. Die russischen Christen haben in der Abkehr von ihrer ursprünglichen Berufung diese Rolle gespielt. Dazu mussten sie es auf sich nehmen, ohne Transzendenz und ohne Tugend zu leben.

    Die Preisgabe der Tugend

    Bei den ersten russischen Revolutionären, den Dekabristen der Jahre um 1820, war die Tugend noch vorhanden. Der jakobinische Idealismus wurde bei diesen Edelmännern noch nicht verändert. Es handelt sich sogar um eine bewusste Tugend: «Unsere Väter waren Sybariten, wir sind lauter Catos», sagte Peter Wiasemskij, einer von ihnen. Dazu kommt einzig noch, was man bis zu Bakunin und den sozialistischen Revolutionären wiederfindet: das Gefühl vom Leiden, das die Kraft der Erneuerung besitzt. Die Dekabristen erinnern an jene französischen Adeligen, die sich dem dritten Stand anschlossen und auf ihre Vorrechte verzichteten. Idealistische Patrizier, haben auch sie ihre Nacht des 4. August gehabt und beschlossen, zur Befreiung des Volkes sich selbst zu opfern. Wenn auch ihr Führer Pestel politische und soziale Gedanken hatte, hatte ihre verunglückte Verschwörung kein festes Programm; es ist nicht einmal gewiss, dass sie an den Erfolg geglaubt haben. «Ja, wir werden sterben», sagte einer von ihnen am Vortag des Aufstands, «aber das wird ein schöner Tod sein.» Es war in der Tat ein schöner Tod. Im Dezember 1825 wurde das Karree der Aufständischen auf dem Senatsplatz in Petersburg mit Kanonen zusammengeschossen. Man deportierte die Überlebenden, nicht ohne ihrer fünf zu hängen, doch so ungeschickt, dass man zweimal von vorn anfangen musste. Man versteht leicht, dass diese offensichtlich unwirksamen Opfer vom ganzen revolutionären Russland verehrt wurden mit einem Gefühl der Begeisterung und des Schauders. Sie waren vorbildlich, wenn auch nicht wirksam. Sie heben am Beginn dieser Revolutionsgeschichte die Rechte und die Größe dessen hervor, was Hegel ironisch die schöne Seele nannte und in Bezug auf welche sich jedoch das russische revolutionäre Denken bestimmen sollte.
    In diesem Klima der Erregung trat das deutsche Denken den Kampf gegen den französischen Einfluss an und setzte seine Geltung durch bei Geistern, die zwischen ihrer Begier nach Rache und Gerechtigkeit und dem Gefühl ihrer ohnmächtigen Einsamkeit schwankten. Es