Camus, Albert

zugelassen, dass die gegenseitige Anerkennung der Bewusstseinsindividuen in der Begegnung der Liebe geschehen könne. 60 Er hatte sich jedoch geweigert, in den Vordergrund seiner Untersuchung dieses ‹Phänomen› zu stellen, das, wie er sagt, «nicht die Kraft, die Geduld und die Arbeit des Negativen besitzt». Er hatte sich dafür entschieden, die Bewusstseinsindividuen in einem Kampf blinder Krabben darzustellen, die auf dem Meeresboden unsicher herumtasten, um sich schließlich in einem Kampf auf Leben und Tod aneinander anzuklammern, und er hatte absichtlich jenes ebenfalls berechtigte Bild zweier Leuchttürme, die sich in der Nacht suchen und zu einem größeren Licht vereinigen, beiseitegelassen. Die sich lieben, die Freunde und die Liebenden, wissen, dass die Liebe nicht nurein Aufblitzen ist, sondern ein langer und schmerzlicher Kampf im Dunkeln um die endgültige Anerkennung und Aussöhnung. Wenn die historische Tugend sich am Beweis der Geduld erkennen lässt, ist die wahre Liebe ebenso geduldig wie der Hass. Die Forderung nach Gerechtigkeit ist nicht allein, die revolutionäre Leidenschaft im Lauf der Jahrhunderte zu rechtfertigen, diese stützt sich auch auf die schmerzliche Forderung einer Freundschaft mit allen, insbesondere einem feindlichen Himmel gegenüber. Die für die Gerechtigkeit sterben, sind zu allen Zeiten ‹Brüder› genannt worden. Für sie alle ist die Gewalt dem Feind vorbehalten, im Dienste der Gemeinschaft der Unterdrückten. Ist jedoch die Revolution der einzige Wert, so verlangt sie alles, selbst die Denunziation, d. h. die Aufopferung des Freundes. Fortan richtet sich die Gewalt gegen alle, im Dienst einer abstrakten Idee. Die Herrschaft der Besessenen musste anbrechen, damit mit einem Mal ausgesprochen werden konnte, die Revolution als solche habe den Vorrang vor denen, die sie retten wollte, und die Freundschaft, die bis dahin die Niederlagen verklärte, sei zu opfern und aufzuschieben bis zum unabsehbaren Tag des Sieges.
    Netschajews Originalität ist es also, die den Brüdern angetane Gewalt zu rechtfertigen. Er stellt zusammen mit Bakunin den Katechismus auf. Aber als dieser in einer Art Geistesverwirrung ihm den Auftrag gab, in Russland eine Europäische Revolutionäre Union zu vertreten, die nur in seiner Einbildung bestand, begibt sich Netschajew tatsächlich nach Russland, gründet seine
Gesellschaft der Axt
und verfasst selbst ihre Statuten. Man findet darin, als unzweifelhafte Notwendigkeit für jede militärische oder politische Unternehmung, das geheime Zentralkomitee wieder, dem alle unbedingte Treue schwören müssen. Doch Netschajew militarisiert nicht nur die Revolution, er tut noch mehr vomAugenblick an, wo er den Führern das Recht zugesteht, Gewalt und Lüge anzuwenden, um die Untergebenen zu lenken. Um damit anzufangen, lügt er tatsächlich, wenn er sich als Delegierter des noch nicht bestehenden Zentralkomitees ausgibt und wenn er, um Zögernde für die geplante Tat zu gewinnen, es darstellt, als verfüge es über unbeschränkte Hilfsmittel. Er tut noch mehr, indem er die Revolutionäre verschiedenen Kategorien zuweist; diejenigen der ersten Kategorie (d. h. die Anführer) haben das Recht, die andern als «ein Kapital, das man ausgeben kann» zu betrachten. Alle Führer der Geschichte haben vielleicht so gedacht, doch haben sie es nicht ausgesprochen. Bis zu Netschajew wagte auf jeden Fall kein Revolutionsführer, daraus das Prinzip seines Verhaltens zu machen. Keine Revolution hatte bisher zuoberst auf ihre Gesetzestafeln geschrieben, der Mensch könne ein Werkzeug sein. Bei der Rekrutierung appellierte man gewöhnlich an den Mut und die Opferbereitschaft. Netschajew entscheidet, dass man die Zögernden erpressen und terrorisieren, die Vertrauenden täuschen kann. Auch die Revolutionäre in der Einbildung können noch nützen, wenn man sie systematisch zur Ausführung der gefährlichsten Taten treibt. Was die Unterdrückten betrifft, kann man sie, da es darum geht, sie ein für alle Mal zu retten, noch mehr unterdrücken. Was sie dabei verlieren, werden die zukünftigen Bedrückten gewinnen. Netschajew stellt den Grundsatz auf, man müsse die Regierungen zu Unterdrückungsmaßnahmen veranlassen und nie diejenigen Regierungsvertreter anrühren, welche das Volk am meisten hasst, und schließlich müsse die Geheimgesellschaft ihre ganze Tätigkeit darauf richten, die Leiden und das Elend der Massen zu vergrößern.
    Diese schönen Gedanken haben heute ihren