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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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vollen Sinn gewonnen; Netschajew hat jedoch den Triumph seiner Prinzipien nicht mehr erlebt. Er hat wenigstens versucht, sie beimMord des Studenten Iwanow anzuwenden, der die Gemüter seinerzeit so stark erregte, dass Dostojewski daraus eines der Themen seiner ‹Besessenen› machte. Iwanow, dessen einziger Fehler es scheinbar war, Zweifel bezüglich des Zentralkomitees zu haben, als dessen Delegierter sich Netschajew ausgab, widersetzte sich der Revolution, weil er sich demjenigen widersetzte, der sich mit ihr identifizierte. Er musste also sterben. «Welches Recht haben wir, einem Menschen das Leben zu rauben?», fragt Uspenskij, einer von Netschajews Kameraden. «Es handelt sich nicht um Recht, sondern um unsere Pflicht, alles zu beseitigen, was der Sache schadet.» Ist die Revolution der einzige Wert, gibt es tatsächlich keine Rechte mehr, sondern nur Pflichten. Aber durch eine unverzügliche Umkehrung, nimmt man im Namen dieser Pflichten sich alle Rechte. Im Namen der Sache tötet somit Netschajew, der auf das Leben keines Tyrannen einen Anschlag verübte, Iwanow in einem Hinterhalt. Darauf verlässt er Russland und sucht wieder Bakunin auf, der sich von ihm abwendet und diese ‹widerliche Taktik› verurteilt. «Er ist nach und nach zur Überzeugung gelangt», schreibt Bakunin, «dass man, um eine unzerstörbare Gesellschaft zu gründen, die Politik Machiavells und das System der Jesuiten zur Grundlage nehmen müsse: für den Leib nur die Gewalt, für die Seele die Lüge.» Das ist richtig gesehen. Aber in wessen Namen entscheiden, dass diese Taktik widerlich ist, wenn die Revolution nach Bakunins Willen das einzige Gut ist? Netschajew steht wirklich im Dienst der Revolution; nicht ihr dient er, sondern der Sache. Ausgeliefert, gibt er nichts seinen Richtern preis. Obwohl zu fünfundzwanzig Jahren Gefängnis verurteilt, beherrscht er noch die Gefängnisse, organisiert die Gefängniswärter in einer Geheimgesellschaft, plant die Ermordung des Zaren und wird von neuem abgeurteilt. Nach zwölf Jahren Kerker beschließt der Tod in einerFestung das Leben dieses Rebellen, der das Geschlecht der alles verachtenden Grandseigneurs der Revolution eröffnet.
    In diesem Augenblick ist in der Revolution alles tatsächlich erlaubt, der Mord kann als Prinzip aufgestellt werden. Man glaubte jedoch anlässlich der Erneuerung des Populismus im Jahre 1870, dass diese revolutionäre Bewegung, hervorgegangen aus den religiösen und ethischen Tendenzen, die man bei den Dekabristen und im Sozialismus Lavrows und Herzens findet, die Entwicklung zum politischen Zynismus bremsen würde, den Netschajew verkörperte. Jene Bewegung appellierte an die lebendigen Seelen› und forderte sie auf, ins Volk zu gehen und es zu erziehen, damit es selbst auf die Befreiung zugehe. Die ‹reuigen Edelleute› verließen ihre Familien, kleideten sich ärmlich und gingen in die Dörfer, den Bauern zu predigen. Aber der Bauer war misstrauisch und schwieg. Wenn er nicht schwieg, denunzierte er den Apostel dem Polizisten. Dieser Misserfolg der schönen Seelen sollte die Bewegung zum Zynismus eines Netschajew zurücktreiben oder mindestens zur Gewalt. In dem Maß wie die Intelligenzija das Volk nicht zu sich zu führen vermochte, fühlte sie sich aufs Neue allein vor der Autokratie; wieder erschien ihr die Welt unter den zwei Gestalten von Herr und Knecht. Die Gruppe ‹Volkswille› stellt deshalb den individuellen Terrorismus als Prinzip auf und eröffnet die Kette von Morden, die sich mit der Partei der Sozialrevolutionäre bis 1905 fortsetzte. Da entstehen die Terroristen, der Liebe abgewandt, die sich aufbäumen gegen die Schuld der Herren, doch allein mit ihrer Verzweiflung gegen die Widersprüche, die sie nur lösen können durch das doppelte Opfer ihrer Unschuld und ihres Lebens.

    Die zartfühlenden Mörder

    1878 ist das Geburtsjahr des russischen Terrorismus. Ein ganz junges Mädchen, Wera Sassulitsch, tötet am 24. Januar, nach dem Prozess der hundertdreiundneunzig Populisten, den General Trepow, Stadthauptmann von Petersburg. Von den Geschworenen freigesprochen, entgeht sie darauf der Polizei des Zaren. Dieser Revolverschuss löst eine Sturzflut von Unterdrückungsmaßnahmen und Attentaten aus, von denen man schon ahnt, dass nur die Ermüdung ihnen ein Ende setzen kann.
    Im gleichen Jahr stellt Krawtschinskij, ein Mitglied der Geheimgesellschaft
Volkswille,
die Grundsätze des Terrors in seinem Pamphlet ‹Tod gegen Tod› auf. Die

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