Camus, Albert
realistischen Philosophen der besiegten Völker bereiteten sich vor, es zur Kenntnis zu nehmen und ihn von Schuld freizusprechen, als die Schlachten um England und Stalingrad ihn dem Tod zuwarfen und die Geschichte einmal mehr vorantrieben. Doch ebenso unermüdlich wie die Geschichte selbst, taucht der menschliche Anspruch auf Göttlichkeit wieder auf, mit mehr Grund, mehr Ernsthaftigkeit und Wirksamkeit, in der Form des rationalen Staates, wie er in Russland aufgebaut ist.
Der Terrorismus des Staates und der rationale Terror
Marx fand im England des 19. Jahrhunderts, in den Leiden und dem furchtbaren Elend, die der Übergang des Grundkapitals zum Industriekapital hervorrief, viel Material zu einer eindrücklichen Analyse des primitiven Kapitalismus. Was den Sozialismus betrifft, war er, abgesehen von den seinen Anschauungen widersprechenden Lehren, die er aus der Französischen Revolution ziehen konnte, gezwungen, davon im Futurum und in Abstraktionen zu sprechen. Man wundert sich also nicht, dass er in seiner Doktrin die gültigste kritischeMethode mit dem anfechtbarsten utopischen Messianismus vermischte. Das Unglück ist, dass die kritische Methode, die ihrem Wesen nach der Realität angepasst gewesen wäre, sich immer mehr von den Tatsachen entfernte, insofern als sie der Prophezeiung treu bleiben wollte. Man glaubte, das ist schon ein Hinweis, man entziehe dem Messianismus, was man der Wahrheit einräume. Dieser Widerspruch ist schon zu Marx’ Lebzeiten spürbar. Die Doktrin des ‹Kommunistischen Manifests› ist nicht mehr genau zutreffend, als zwanzig Jahre später das ‹Kapital› erscheint. Das ‹Kapital› blieb übrigens unvollendet, weil Marx sich am Ende seines Lebens mit einer neuen, ungeheuren Masse sozialer und wirtschaftlicher Tatsachen beschäftigte, denen er sein System von neuem anpassen musste. Diese Tatsachen betrafen vorab Russland, das er bis dahin geringgeschätzt hatte. Es ist bekannt, dass das Marx-Engels-Institut in Moskau 1935 die Herausgabe von Marxens vollständigen Werken abbrach, während noch über dreißig Bände zu veröffentlichen waren; der Inhalt dieser Bände war zweifellos nicht ‹marxistisch› genug.
Seit dem Tode von Marx ist jedenfalls nur eine Minderheit von Schülern seiner Methode treu geblieben. Die Marxisten, die die Geschichte machten, haben im Gegenteil zur Prophezeiung gegriffen und der apokalyptischen Seite seiner Lehre, um eine marxistische Revolution zu verwirklichen, genau unter den Umständen, die Marx als für eine Revolution unmöglich vorhergesehen hatte. Man kann von Marx sagen, dass die Mehrzahl seiner Voraussagen sich mit den Tatsachen nicht vereinbaren ließen, zu gleicher Zeit, als seine Prophezeiung Gegenstand eines wachsenden Glaubens war. Der Grund ist einfach: Die Voraussagen waren kurzfristig und konnten kontrolliert werden. Die Prophezeiung ist sehr langfristig und hat für sich, was die Festigkeit aller Religionenbegründet: die Unmöglichkeit, Beweise zu erbringen. Wenn die Voraussagen einstürzen, bleibt die Prophezeiung als letzte Hoffnung. Daraus folgt, dass sie die Einzige ist, über unsere Geschichte zu herrschen. Der Marxismus und seine Erben werden hier nur unter dem Gesichtspunkt der Prophezeiung untersucht werden.
Die bürgerliche Prophezeiung
Marx ist ein bürgerlicher und zugleich ein revolutionärer Prophet. Der Letztere ist bekannter als der Erstere. Aber der Erstere erklärt viel vom Schicksal des Letzteren. Ein Messianismus christlichen und bürgerlichen Ursprungs, historisch und wissenschaftlich zugleich, hat in ihm den revolutionären Messianismus beeinflusst, der aus der deutschen Ideologie und den französischen Aufstandsbewegungen hervorgegangen war.
Im Gegensatz zur antiken Welt ist die Einheit der christlichen und der marxistischen Welt verblüffend. Beide Heilslehren haben ein Weltbild gemeinsam, das sie von der griechischen Haltung trennt. Jaspers definiert sie treffend: «Die Geschichte der Menschheit als durchaus einzigartig zu betrachten, ist ein christlicher Gedanke.» Die Christen haben als Erste das menschliche Leben und die Folge der Ereignisse als eine Geschichte angesehen, die sich von einem Ursprung einem Ende entgegen entwickelt und während welcher der Menschsein Heil gewinnt oder sich seine Strafe verdient. Die Philosophie der Geschichte ist aus einer christlichen Vorstellung entsprungen, die für einen griechischen Geist überraschend ist. Der griechische Begriff des Werdens hat nichts gemein
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