Camus, Albert
Messianismus ist jedoch bürgerlichen Ursprungs. Der Fortschritt, die Zukunft der Wissenschaft, der Kultur der Technik und der Produktion sind bürgerliche Mythen, die sich im 19. Jahrhundert als Dogma ausgebildet haben. Man wird vermerken, dass das ‹Kommunistische Manifest› im gleichen Jahr wie Renans ‹Zukunft der Wissenschaft› erscheint. Dies Letztere, für einen Zeitgenossenkonsternierende Glaubensbekenntnis vermittelt jedoch die genaueste Vorstellung jener beinahe mystischen Hoffnungen, welche im 19. Jahrhundert der Aufschwung der Industrie und die überraschenden Fortschritte der Wissenschaften auslösten. Es ist zugleich die Hoffnung der bürgerlichen Gesellschaft selbst, der Nutznießerin des technischen Fortschritts.
Der Begriff des Fortschritts stammt aus der Zeit der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution. Ohne Zweifel kann man für ihn geistige Urheber im 17. Jahrhundert finden; der Streit zwischen den Alten und den Modernen 70 führt in das europäische Denken den vollkommen absurden Begriff des künstlerischen Fortschritts ein. Auf ernsthaftere Weise kann man auch dem Cartesianismus die Idee einer ständig wachsenden Wissenschaft entnehmen. Aber Turgot gibt 1750 als Erster eine klare Definition des neuen Glaubens. Seine Rede über den Fortschritt des menschlichen Geistes nimmt im Grunde Bossuets Weltgeschichte wieder auf. Nur tritt an die Stelle des göttlichen Willens die Idee des Fortschritts. «Die Gesamtheit des Menschengeschlechts schreitet durch einen Wechsel von Ruhe und Erregung, von Gutem und Bösem stetig, wenn auch mit langsamem Schritt, zu einer größeren Vollkommenheit.» Ein Optimismus, der das Wesentliche zu Condorcets rhetorischen Betrachtungen liefert, des offiziellen Doktrinärs des Fortschritts, den er mit dem staatlichen Fortschritt verband und dessen offiziöses Opfer er daher auch wurde, denn der aufgeklärte Staat zwang ihn, sich zu vergiften. Sorel 71 sagte mit vollem Recht, die Fortschrittsphilosophiekäme gerade einer Gesellschaft zupass, die gierig auf den Genuss des materiellen Wohlstands aus ist, den der technische Fortschritt mit sich bringt. Wenn man sicher ist, dass der Weltordnung zufolge das Morgen besser sein wird als das Heute, kann man sich in Frieden amüsieren. Der Fortschritt kann paradoxerweise zur Rechtfertigung des Konservatismus dienen. Ein Wechsel, im Vertrauen auf die Zukunft gezogen, gewährt er somit den Herren ein gutes Gewissen. Den Sklaven, denen, die in der Gegenwart im Elend leben und keine himmlische Tröstung haben, versichert man, dass zumindest die Zukunft ihnen gehören werde. Die Zukunft ist der einzige Besitz, den die Herren den Sklaven gerne zugestehen.
Diese Überlegungen sind, wie man sieht, keineswegs unaktuell. Doch sind sie nicht unaktuell, weil der revolutionäre Geist dies doppeldeutige und bequeme Thema des Fortschritts wiederaufgenommen hat. Es handelt sich gewiss nicht um die gleiche Freiheit; Marx kann den rationalen Optimismus der Bourgeois nicht genug verspotten. Sein Grund ist, wie wir sehen werden, ganz verschieden. Aber der schwierige Weg zu einer versöhnten Zukunft kennzeichnet Marxens Denken. Hegel und der Marxismus haben die formalen Werte abgeschafft, welche für die Jakobiner den geraden Weg dieser glücklichen Geschichte beleuchteten. Sie bewahrten jedoch die Vorstellung dieses Vormarsches, den sie einfach mit dem sozialen Fortschritt verwechselten und als notwendig herausstellten. So setzten sie das bürgerliche Denken des 19. Jahrhunderts fort. Tocqueville, den Pecquern (seinerseits voller Einfluss auf Marx) in seinem Enthusiasmus ablöste, verkündete tatsächlich: «Die stufenweise und fortschreitende Entwicklung der Gleichheit ist die Vergangenheit und zugleich die Zukunft der Menschheitsgeschichte.» Um zum Marxismus zu gelangen, muss manGleichheit durch Produktionshöhe ersetzen und sich vorstellen, dass auf der letzten Stufe der Produktion sich eine Umwandlung vollziehen und die ausgesöhnte Gesellschaft verwirklicht werden wird.
Was die Notwendigkeit der Entwicklung angeht, gibt ihr Auguste Comte mit seinem Gesetz der drei Stände, das er 1822 aufstellt, die systematischste Definition. Die Schlussfolgerungen Comtes gleichen seltsam denen, die sich der wissenschaftliche Sozialismus zu eigen machte. 72 Der Positivismus zeigt mit großer Deutlichkeit die Rückwirkungen der ideologischen Revolution des 19. Jahrhunderts, deren einer Vertreter Marx war und die darin bestand, den Garten Eden und die
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