Camus, Albert
Mittelpunkt seiner Gedanken. Er erhob sich gegen die Erniedrigung der Arbeit zur Ware und des Arbeiters zu einem Objekt. Er rief den Privilegierten in Erinnerung, dass ihre Privilegien sich nicht von Gott, ihr Besitz sich nicht von einem ewigen Recht ableiten. Er weckte ein schlechtes Gewissen in denen, die kein Recht hatten, auf ihrem guten Gewissen auszuruhen, und klagte mit einer Gedankentiefe ohnegleichen eine Klasse an, deren Verbrechen nicht so sehr ist, die Macht besessen, als sie für die Zweckeeiner mittelmäßigen Gesellschaft ohne wahren Adel gebraucht zu haben. Wir verdanken ihm die Idee, an der unsere Zeit verzweifelt – aber die Verzweiflung ist hier mehr wert als jede Hoffnung –, dass, wenn die Arbeit ein Niedergang ist, sie nicht das Leben ist, obwohl sie sich über die ganze Lebenszeit erstreckt. Wer kann, trotz ihren Behauptungen, in dieser Gesellschaft in Frieden schlafen, wenn er von nun an weiß, dass er seine schäbigen Genüsse aus der Arbeit von Millionen toter Seelen gewinnt? Indem er für den Arbeiter den wahren Reichtum forderte, nicht denjenigen des Geldes, sondern den der Freizeit oder der Schöpfung, forderte er, trotz des gegenteiligen Anscheins, den Wert des Menschen. Damit wollte er nicht, das darf man mit Nachdruck sagen, die zusätzliche Erniedrigung, die man in seinem Namen dem Menschen auferlegt hat. Ein Satz von ihm, dies eine Mal klar und schneidend, spricht seinen triumphierenden Schülern für immer die Größe und Menschlichkeit ab, die ihm eigen waren: «Ein Ziel, das ungerechte Mittel braucht, ist kein gerechtes Ziel.»
Doch da stellt sich wieder die Tragödie Nietzsches ein. Das Streben und die Prophetie sind großzügig und umfassend. Die Lehre war einschränkend, und die Zurückführung jedes Wertes auf die bloße Geschichte ließ die äußersten Konsequenzen zu. Marx glaubte, dass wenigstens die Ziele der Geschichte sich als moralisch und rational erweisen werden. Das eben war seine Utopie. Das Schicksal der Utopie ist, was er jedoch wusste, dem Zynismus zu dienen, der ihm fernlag. Marx zerstört jede Transzendenz und vollzieht dann von sich aus den Übergang von der Tatsache zur Pflicht. Aber diese Pflicht hat ihr Prinzip nur in der Tatsache. Die Forderung nach Gerechtigkeit führt am Schluss zur Ungerechtigkeit, wenn sie nicht zuvor durch eine ethische Rechtfertigung der Gerechtigkeit begründet wird. Ohne das wird das Verbrechen eines Tages auch zur Pflicht. Wenn das Böse und dasGute wieder in die Zeit eingegliedert und mit den Ereignissen verschmolzen werden, ist nichts mehr gut oder böse, sondern nur verfrüht oder veraltet. Wer entscheidet über die Opportunität, wenn nicht der Opportunist? Später, sagen die Schüler, werdet ihr richten. Aber die Opfer sind nicht mehr da, um zu richten. Für das Opfer ist die Gegenwart der einzige Wert, die Revolte die einzige Tat. Der Messianismus muss gegen die Opfer aufgebaut werden. Es ist möglich, dass Marx das nicht gewollt hat, aber hier liegt seine Verantwortung, die untersucht werden muss: Er rechtfertigt im Namen der Revolution den fortan blutigen Kampf gegen alle Formen der Revolte.
Das Scheitern der Prophezeiung
Hegel lässt stolz die Geschichte im Jahr 1807 zu Ende gehen, die Saint-Simonisten betrachten die revolutionären Zuckungen von 1830 und 1848 als die letzten, Comte stirbt 1857, als er sich vorbereitete, den Positivismus einer von ihren Irrtümern ablassenden Menschheit zu predigen. Mit der gleichen blinden Romantik prophezeit Marx seinerseits die klassenlose Gesellschaft und die Lösung des Geheimnisses der Geschichte. Da er aber klüger ist, setzt er kein Datum fest. Unglücklicherweise beschrieb seine Prophezeiung auch den Gang der Geschichte bis zur Stunde der Erfüllung, sie kündete die Richtung der Ereignisse an. Die Ereignisse und die Tatsachen haben jedoch vergessen, sich unter die Synthese einzuordnen; das erklärt bereits, dass man sie mit Gewalt dazu bringen musste. Prophezeiungen können jedoch, sobald sie die lebendige Hoffnung von Millionen von Menschen wiedergeben, nicht ungestraft ohne Schlusspunkt bleiben. Es kommt eine Zeit, wo die Enttäuschung die geduldige Hoffnung in Wut verwandelt und wo das gleiche Ziel, dasmit wütendem Eigensinn bejaht und noch unerbittlicher verlangt wird, zur Suche nach andern Mitteln zwingt.
Die revolutionäre Bewegung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat, wie die ersten Christen, in der Erwartung des Weltendes und des Erscheinens
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