Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
geschärft für die elementare Schönheit der Welt.
Sein letzter Roman ist der Sonne, dem Meer und den glühenden Landschaften gewidmet, die der Mensch sich noch nicht unterworfen hat. Er führt ihn zurück in die biblische Einöde, in der seine Mutter ihn geboren hat und die er verlassen musste, um sich im Zentrum der lauten Geschichte ein Leben lang nach der Stille des Anfangs zu sehnen: ein trauriger Mensch, der wusste, was das Glück war. Im
Ersten Menschen
hat er sich schließlich von allem befreit, was ihn daran hinderte, in diese Welt wieder einzutauchen – von dem drückendem Pomp, der sein Schreiben so oft beschwerte und seine Stimme verstellte, aber auch von den strengen Exerzitien der Nüchternheit, die ihm den Atem nahmen. Wie lange hatte Camus nach dieser mühelosen Anwesenheit im Leben und im Schreiben gesucht. Als er schließlich das Haus in Lourmarin bezogen, Paris hinter sich gelassen und die Einfachheit gefunden hat, nach der er sich sehnt; als es ihm schließlich gelungen ist, seinen Stil so zu verwandeln, dass er die wortlose und schlichte Welt seiner Mutter wiederauferstehen lassen kann – stirbt er. Es ist das größte Paradox seines Lebens: Er stirbt buchstäblich in dem Augenblick, in dem alles beginnen könnte.
Und Schluss
Es gibt kein Leben, das sich vollendet. In den Weihnachtsferien kommen Francine und die Zwillinge nach Lourmarin. Eine französische Familie, die Kinder toben auf dem Dachboden, die Mutter spielt Bach, alles wie immer. Camus trifft schon Verabredungen für das neue Jahr mit seinen Geliebten in Paris. Er schickt fast gleich lautende Silvestergrüße an Mi, an Maria Casarès und an Catherine Sellers. Die Erste nennt er «meine Inniggeliebte, meine Glühende, mein Mädchen». Die Zweite «meine Herrliche». Die Dritte «meine Liebe».
Michel und Janine Gallimard sind mit dem Facel Vega angereist, dem neuesten Modell, handgefertigt, ein Luxusauto. Michel, der Freund, ist lungenkrank wie Camus, lebenssüchtig, liebebedürftig, verwöhnt, reich und vielleicht auch leichtsinnig. Michel Gallimard ist die hellere, die sorglosere Zwillingsausgabe von Camus. In Michels Gesellschaft fällt von Camus alles ab, was ihn wie Blei beschwert, seit er in Europa lebt. Man feiert Silvester zusammen – Albert und Francine, Michel und Janine, die vierzehnjährigen Kinder Catherine und Jean und Janines siebzehnjährige Tochter Anne. Die sechziger Jahre stehen vor der Tür. Die Abreise ist für den 2 . Januar vorgesehen. Camus hat bereits eine Fahrkarte.
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Michel Gallimard und Albert Camus in Griechenland, Juni 1958
Dann entscheidet er sich anders. Er lässt Francine allein mit den Kindern nach Paris fahren, bringt die Familie am 2 . Januar nach Avignon zum Zug. Camus hat beschlossen, mit seinem Freund Michel im Auto zurückzufahren. In acht Tagen möchte er wieder in Lourmarin sein. Am Morgen des 3 . Januar 1960 brechen Michel, Albert, Janine, Anne und ihr Hund Floc nach einem Morgenspaziergang im Facel Vega auf. Vorn die Männer, hinten, dicht zusammengedrängt, die Frauen und der Hund. In einer Aktentasche die 144 Seiten des
Ersten Menschen
und Nietzsches
Fröhliche Wissenschaft
. Anschnallgurte hat es noch nicht gegeben.
An diesem Abend übernachtet man unweit von Mâcon. Am nächsten Morgen fährt man, nach einem späten Frühstück, gegen 10 Uhr weiter. Das Mittagessen in Sens im Hotel de Paris et de la Poste ist die letzte Mahlzeit. Im Auto soll, wie immer unter den Freunden, viel gescherzt worden sein. Die Landstraße zwischen Sens und Paris verläuft gerade. Sie ist von Platanen gesäumt. Das Wetter grau, Nieselregen. Wahrscheinlich ist ein Reifen geplatzt. Bei Villeblevin tanzt der Facel Vega auf der schnurgeraden Straße, prallt gegen eine Platane, wird gegen eine zweite geschleudert und zerschellt. Es ist Montag, der 4 . Januar 1960 , kurz vor 14 Uhr. Camus ist sofort tot. Michel stirbt einige Tage später. Janine und Anne sind unverletzt. Der Hund bleibt verschwunden.
Man bringt die Leiche ins Rathaus und legt sie im Sitzungssaal auf einen Tisch unter eine nackte Glühbirne, verhängt die Wände mit schwarzen Tüchern und hält die Uhren an. Die Mitglieder des Stadtrats versammeln sich um den Toten – eine Provinztheaterinszenierung, die Camus amüsiert hätte. Francine kommt mit einer hupenden Polizeieskorte aus Paris angefahren und kehrt nach einigen Stunden benommen und stumm nach Hause zu den Kindern zurück. Die Freunde Emmanuel Roblès
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