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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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Einfachheit, zwischen den kleinen Leuten und der großen Politik geben. Zum Glück sei Jean dagegen gewesen.
    Seit Jahren haben die Camus-Zwillinge keinen Kontakt mehr zueinander. Catherine möchte das nicht kommentieren, und als ich meinerseits von Jean erzähle, den ich in der düsteren Wohnung in der Rue Madame besuchen durfte und mit dem ich stundenlang habe sprechen können, rollt sie auf ihrem Schreibtischstuhl bis in die letzte Ecke des Arbeitszimmers ihres Vaters und zieht sich, mitten im Frühling, plötzlich eine warme Jacke an.
    Warum haben die Kinder damals, im Januar  1960 , nicht an der Beerdigung ihres Vaters in Lourmarin teilgenommen, immerhin waren sie schon 14  Jahre alt? Catherine wundert sich über diese Frage: Es habe ihnen ganz einfach niemand gesagt, dass ihr Vater tot sei. Man habe in der Familie ja nicht viel gesprochen. Es habe lange gedauert, bis man den Zwillingen zu verstehen gab, dass ihr Vater in Lourmarin unter der Erde liege. Auch später als erwachsene Frau habe sie mit ihrer Mutter nie besonders viel über die Vergangenheit und über das Verhältnis der Eheleute zueinander gesprochen. Derartige Gespräche, sagt Catherine Camus, seien doch nur Psychoanalyse, für sie offenbar ein anderes Wort für Unsinn. Und dann sagt sie einen wunderbaren Camus-Satz: «Nous sommes des sauvages d’Afrique» – die Familie Camus versteht sich noch in der nächsten Generation als ein Stamm afrikanischer Wilder, den das Schicksal nach Frankreich und in die seichten Seelengebiete der Zivilisation verschlagen hat, ohne dass man hierhergehörte.
    Den kompletten Briefwechsel ihrer Eltern habe sie nie gelesen. Eine Freundin habe ihn vor Jahren einmal abgeschrieben, sie sei die einzige lebende Person, die diesen Briefwechsel überhaupt kenne. Dem Biographen Olivier Todd habe man nur eine schmale Auswahl der Briefe zur Verfügung gestellt (aus denen auch in diesem Buch zitiert wird). Wo die Briefe an Maria Casarès seien, will sie mir nicht verraten. Niemand durfte sie bisher einsehen.
    Catherine Camus trägt nicht schwer an ihrem Namen. Im Laufe unseres Gesprächs glaube ich hinter ihrem offenen und aufmerksamen Wesen auch die Verschwiegenheit und Unbedingtheit des Vaters zu entdecken. «Das Leben ist kompliziert», sagt sie. «Jeder sucht sich seinen eigenen Weg durch den Dschungel.» Vier Kinder hat sie großgezogen, darunter zwei eigene. Seit  1992 lebt sie in dem großen Haus, das sich ihr Vater von seinem Nobelpreisgeld gekauft hat – «ein Geschenk, das uns Papa hinterlassen hat». Dass ihr Vater den Satz geschrieben haben soll: «Außer in der Liebe ist die Frau langweilig», will sie nicht glauben. Wir sehen zusammen im Tagebuch nach, da steht er in seiner schmerzlichen Unmissverständlichkeit. Nichts zu machen, Papa sei eben ein Mann des Mittelmeeres gewesen. Auch die große Verehrung für seine Mutter – eine «intelligente, zarte Frau mit wunderbaren Augen! Ohne jeden Argwohn! Wir haben sie alle Hélène genannt» – hänge mit seinem mittelmeerischen Erbe zusammen. Der Vater habe sie gelehrt, dass man im Leben nichts ausschließen dürfe und es so nehmen müsse, wie es ist. Er sei immer sehr offen und zugänglich gewesen. Anders als die Mutter, die nicht mit beiden Beinen im Leben verankert gewesen sei. Das rastlose Liebesleben des Vaters will die Tochter nicht verurteilen, erwachsene Menschen könnten leben, wie sie wollten, ein Leben sei nicht richtig oder falsch, sondern immer bloß das Leben mit all seinen Widersprüchen. Glaubt man seiner Tochter, müssen wir uns Camus als einen wunderbaren Vater vorstellen: «Un père excellent».
    Da stehen wir schon auf der großen Steinterrasse und sehen hinüber zum Friedhof. Ob sie dort eines Tages bei ihrem Vater begraben sein wird? Darüber denke sie nicht nach, «wenn man stirbt, stirbt man». Wieder so ein Camus-Satz, kantig und erratisch wie ein Feldstein der Provence. Ihr Vater hat es ganz ähnlich gesagt: «Meine große Überlegenheit besteht darin, dass ich keine Angst habe, zu sterben.» Wichtig, sagt die Tochter, sei ihr jedoch eine Erdbestattung: «Man muss die Erde ernähren.»
    Ich erinnere sie daran, dass die Erde eines der zehn Lieblingsworte ihres Vaters war, im Tagebuch hat er sie 1951 notiert. Wir versuchen, auf der Terrasse stehend, gemeinsam auf sie zu kommen: Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer. Ich erzähle Catherine, dass mein Buch über

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