Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
ihren Vater in seinen zehn Kapiteln diesen zehn Worten folgt. Warum ausgerechnet seinen Lieblingsworten?
Weil ihr Vater diesen Worten vertraut habe, es seien Magnetworte, die alles, auch alles Widersprüchliche anzögen, magische Worte seines Werks und seines Lebens. Camus, sage ich zu seiner Tochter, wollte der «Mann sein, über den es keine persönlichen Geschichten zu erzählen gibt», ein verschwiegener Künstler, ohne Bekenntnisse, Briefe und Intimitäten. Er habe in meinen Augen sein Leben lang Ballast abgeworfen, am Anfang die Psychologie, dann die Ideologie, am Lebensende sogar die Poesie – bis beinahe nichts mehr da war. Aber er wollte auch leben, was er schreibt, und schreiben, was er lebt. «Mein Werk wird von meinem Leben gemacht werden und nicht umkehrt» – das habe er ja schon als ganz junger Mann geschrieben und sich immer daran gehalten. Mann und Werk gehörten zusammen – wenn nicht bei ihm, bei wem dann? Wer ihn ausschließlich als Dichter oder Denker betrachte und nicht auch als Vater, als Liebenden, als Schauspieler, als Journalisten, als Muttersohn, als Ehemann, als Casanova, als Freund, als Lektor, als Algerier, als Exilanten, als Verzweifelten, als Moralisten und so weiter, der entleibe ihn. Er wollte doch immer mehr als «nur Künstler» sein. Seine Lebenskünstlerschaft sei es gewesen, erkläre ich Catherine Camus ausgerechnet auf der Terrasse in Lourmarin, die mich dazu verführt habe, die zehn Lieblingsworte ihres Vaters zur Grundlage für mein Buch zu machen.
Letzte Frage: Was in ihren Augen das wichtigste Vermächtnis ihres Vaters sei? Sehr schnelle Antwort: Die große Energie, die er ihr hinterlassen habe. Und die «pensée de midi». Das Sonnendenken sei der Schlüssel zu allem. Das menschliche Maß in der Geschichte, in der Kunst, in unserer Ausbeutung der Natur, das sei kein weicher, kompromisslerischer Begriff, sondern ein Kampf – der Lebenskampf ihres Vaters. Aber nun müsse sie wirklich die Hunde füttern.
Im Klavierzimmer in Paris
In der Rue Madame Nummer 29 wohnt Jean Camus allein in den fünf Zimmern der elterlichen Wohnung. Die Möbel, die Teppiche, die Bücher, die Bilder – alles scheint noch so zu sein wie am 4 . Januar 1960 , als wäre damals die Zeit stehen geblieben. Nur etwas älter, etwas zerschlissener, etwas durchlebter ist das Interieur, und Jean, der Bewohner dieser Dornröschenszenerie, ist nun ein zarter, schwarz gekleideter Herr Ende sechzig. Wir sitzen uns im Klavierzimmer gegenüber, auf dessen Balkon wurden die berühmten Fotos seiner Eltern gemacht, die Mutter in hochgeschlossener weißer Bluse und der Vater mit Pfeife im Mund, auf der Straße drei geparkte Automobile. Das war 1952 .
Jean freut sich sehr, dass ich ihn besuche. Er geht kaum noch aus dem Haus, seit acht Jahren lebt er hier wie ein Einsiedler bei fast geschlossenen Fensterläden. Er schreibt, er hört Musik, er raucht, er liest. Neben dem durchgesessenen sandfarbenen Sessel, auf dem er sitzt, stapeln sich Zigarettenpackungen auf dem Beistelltisch. Stets griffbereit – die Bibel. Auch der Bechstein-Flügel Francines steht in Reichweite, auf dem Notenpult ein Foto von Robert Gallimard. Gestern, erzählt Jean, habe er sechzehn Stunden lang geschrieben, an seinen Tagebüchern, nur eine halbe Seite sei jedoch dabei herausgekommen. Jean kann lange Passagen aus dem Werk seines Vaters auswendig vortragen. Er rezitiert wie ein Schauspieler die Rede, die Meursault, der Fremde, dem Priester im Gefängnis hält. Dann eines der langen Mallarmé-Gedichte, in denen es um ein Grab, trockenes Laub und Städte ohne Abend geht. Er spricht von Kants
Kritik der Urteilskraft
, von Pascal, von Trotzki, von Freud, von C. G. Jung, von Liszt, Chopin, Schubert. Jean scheint ganz und gar aus Literatur und Musik zu bestehen. Er war wie seine Zwillingsschwester im Justizwesen tätig, hat zwei Kinder, sein Sohn David Camus ist Schriftsteller geworden – der griechische Glaube des Großvaters an die ewige Wiederkehr scheint hier weiterzuwirken.
Jean erinnert sich nicht an das letzte Weihnachtsfest mit dem Vater. Es sei ein Mysterium, sagt er, doch nach dem Schock sei alles wie ausgelöscht gewesen. Abgesehen davon sei sein Vater für ihn immer anwesend. Er höre seine Stimme. Er wäre gar nicht da, wenn er sich nicht an ihn erinnerte: «Ich bin Erinnerung». Auch Jean spricht mit jenem wunderbaren Camus-Pathos, das bei ihm nicht so apodiktisch wie bei seiner Schwester, sondern sehr poetisch
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